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Die Radleys

Titel: Die Radleys
Autoren: Matt Haig
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Tod und Sterben tagt das Frühgestirn.
    Er liest die Zeile wieder und wieder, versucht alles andere auszublenden. Aber dann hält der Bus, und Harper – der auf Rowans Liste von gefürchteten Personen an zweiter Stelle steht – steigt ein. Harper ist eigentlich Stuart Harper, aber sein Vorname ist im Jahr Nummer zehn von ihm abgefallen, irgendwo auf dem Rugbyfeld.
    Auf Tod und Sterben tagt das Frühgestirn.
    Harper schiebt seinen gigantischen Körper den Gang entlang, und Rowan hört, wie er sich neben Toby setzt.Irgendwann während der Fahrt spürt Rowan, dass ihm etwas wiederholt auf den Kopf patscht. Nach einigen Patschern erkennt er, dass es Tobys Tennisschläger ist.
    »He, Lahmarsch, was macht der Ausschlag?«
    »Lahmarsch«, höhnt Harper.
    Zu Rowans Erleichterung haben sich Clara und Eve noch nicht umgedreht.
    Toby bläst ihm von hinten ins Genick.
    »He, Freak, was liest du da? He, Robin Rotkehlchen … Was liest du da? «
    Rowan dreht sich halbwegs um. »Ich heiße Rowan«, sagt er. Oder er sagt es mehr oder weniger. Das »ich heiße« ist ein raues Flüstern, seine Kehle findet die Stimme nicht rechtzeitig.
    »Pimperzwerg«, sagt Harper.
    Rowan versucht, sich auf seine Zeile zu konzentrieren.
    Auf Tod und Sterben tagt das Frühgestirn.
    Toby bleibt weiter beharrlich.
    »Was liest du da? Robin. Ich habe dich was gefragt. Was liest du da?«
    Rowan hält zögernd das Buch hoch, das Toby ihm sofort aus der Hand reißt.
    »Schwul.«
    Rowan dreht sich auf seinem Sitz um. »Gib es mir zurück. Bitte. Ich … hätte gern mein Buch zurück.«
    Toby schubst Harper. »Das Fenster.«
    Harper scheint unsicher und zögerlich, er steht aber trotzdem auf und schiebt das schmale Oberlicht auf. »Mach schon, Harper. Tu es.«
    Rowan sieht nicht, wie das Buch die Hände wechselt, wohl aber, wie es wie ein Vogel im Sturzflug hinten auf die Straße flattert. Childe Harold und Lara und Don Juan in wenigen Sekunden gleichzeitig verloren.
    Er will sich gegen sie wehren, aber er ist schwach und müde. Außerdem hat Eve seine Demütigung noch nicht mitbekommen, und er will nichts tun, was dazu führen könnte.
    »Ach lieber Robin, es tut mir entsetzlich leid, aber offensichtlich hat jemand deinen schwulen Gedichtband verlegt«, sagt Toby mit theatralischer Stimme.
    Leute, die in ihrer Nähe sitzen, lachen ängstlich. Clara dreht sich um, irritiert. Eve auch. Sie können sehen, dass die Leute lachen, aber nicht, aus welchem Grund.
    Rowan schließt die Augen. Wünscht sich zurück ins Jahr 1812, in eine dunkle und einsame Pferdekutsche, und Eve mit einer Haube auf dem Kopf neben sich.
    Sieh mich nicht an. Bitte, Eve, sieh mich nicht an.
    Als er die Augen wieder aufschlägt, wurde ihm sein Wunsch erfüllt. Nun ja, zur Hälfte. Er befindet sich immer noch im einundzwanzigsten Jahrhundert, aber seine Schwester und Eve unterhalten sich, ohne bemerkt zu haben, was gerade geschehen ist. Clara klammert sich an die Lehne des Vordersitzes. Ihr ist schlecht, unverkennbar, und er hofft, dass sie sich nicht im Bus erbrechen muss, aber sosehr er es hasst, im Zentrum von Tobys und Harpers Aufmerksamkeit zu stehen, würde er nicht wollen, dass sie sich auf Clara stürzen. Doch irgendwie, durch irgendein unsichtbares Signal, greifen sie seine Befürchtung auf und fangen an, über die beiden Mädchen zu reden.
    »Eve gehört heute Abend mir, Harps. Meine Flöte ist bereit, Alter, ich sag’s dir.«
    »Ja?«
    »Keine Sorge. Du kommst auch zum Zug. Scheißstechers Schwester ist ziemlich scharf auf dich. Echt, ohne Witz.«
    »Was?«
    »Sieht man doch.«
    »Clara?«
    »Die braucht ein bisschen Farbe und die Brille weg, dann lohnt sich der Versuch.«
    Rowan spürt, wie sich Toby vorbeugt, um ihm zuzuflüstern: »Wir haben da eine Anfrage. Harper hat’s mit deiner Schwester. Wie viel nimmt die doch gleich pro Nacht? Einen Zehner? Weniger?«
    Rowan kocht innerlich vor Wut.
    Er will etwas sagen, schafft es aber nicht. Er schließt die Augen und malt sich ein Horrorszenario aus. Toby und Harper, beide auf ihren Plätzen im Bus, aber rot und gehäutet wie anatomische Zeichnungen, mit Muskelsträngen und Haarbüscheln auf den Köpfen. Das Bild wird weggeblinzelt … Und Rowan unternimmt nichts, um seine Schwester zu verteidigen. Er sitzt einfach da, schluckt seinen Selbsthass hinunter und fragt sich, was Lord Byron wohl getan hätte.

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    FOTOGRAFIE
    Es ist nur eine Fotografie.
    Ein erstarrter Moment aus der Vergangenheit.
    Ein physisches Ding, das sie
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