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Die Radleys

Titel: Die Radleys
Autoren: Matt Haig
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denke, wir sollten ihr die Wahrheit sagen.«
    »Was?«
    In der stickigen Küchenluft atmet er tief ein. »Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir es den Kindern sagen.«
    »Peter, wir müssen sie schützen. Wir müssen alles schützen. Du musst realistisch sein.«
    Er schnallt die Aktentasche zu. »Ach ja, Realismus. Passt nicht so ganz zu uns, oder?«
    Sein Blick fällt auf den Kalender. Die Ballerina von Degas und die Kalendertage sind mit Helens Handschrift übersät. Erinnerungen an Lesekreistreffen, Theaterbesuche, Badmintonturniere, Zeichenkurse. Der endlose Nachschub an Verpflichtungen. Heute auch: Essen mit Felts bei uns – 19.30 Uhr – Lorna macht Vorspeise.
    Peter stellt sich seine hübsche Nachbarin vor, wie sie ihm gegenübersitzt.
    »Tut mir leid«, sagt er. »Ich bin bloß ein bisschen gereizt. Eisenmangel. Manchmal gehen mir all die Lügen einfach auf die Nerven, verstehst du?«
    Helen nickt. Sie versteht.
    Mit einem Blick auf die Uhr hastet Peter in Richtung Tür.
    »Die Müllabfuhr kommt heute«, sagt sie. »Und die Recyclingtonne muss raus.«
    Recycling. Peter seufzt und nimmt den vollen Behälter mit Bechern und Flaschen mit. Leere Gefäße, die auf ihre Wiedergeburt warten.
    »Ich fürchte bloß, je länger sie nicht isst, was sie essen muss, desto größer wird ihr Verlangen …«
    »Ich weiß, ich weiß. Wir lassen uns was einfallen. Aber ich muss jetzt wirklich gehen – ich bin sowieso schon spät dran.«
    Er öffnet die Tür, und sie sehen den unheilvoll blauen Himmel mit seiner gleißenden Warnung.
    »Geht das Ibuprofen zur Neige?«, fragt er unvermittelt.
    »Ja«, sagt sie. »Ich glaube schon.«
    »Ich gehe auf dem Heimweg bei der Apotheke vorbei. Meinem Kopf geht’s verflucht schlecht.«
    »Ja, meinem auch.«
    Er küsst sie auf die Wange und streicht ihr in einem Anflug von Zärtlichkeit sacht über den Arm, eine mikroskopische Erinnerung daran, wie es einmal zwischen ihnen war, dann ist er weg.

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    Seien Sie stolz, sich wie ein menschliches Wesen zu benehmen. Halten Sie sich an die hellen Stunden des Tages, suchen Sie sich einen anständigen Job und umgeben Sie sich mit Menschen, die ein sicheres Gespür für den Unterschied zwischen Gut und Böse haben.
    Handbuch für Abstinenzler
(Zweite Ausgabe), Seite 89

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    FANTASY WORLD
    Auf der Karte sieht Bishopthorpe wie das Skelett eines Fischs aus.
    Die Hauptstraße ist das Rückgrat mit dünnen kleinen Seitensträßchen und Sackgassen, die nirgendwo hinführen. Ein toter Ort, an dem junge Leute nach mehr hungern.
    Es gibt recht viele verschiedene Geschäfte an der Hauptstraße, wie in Dörfern üblich. Aber bei Tageslicht sieht man, was sie sind – ein willkürlicher Mix aus Nischenprojekten, die eigentlich nicht zusammengehören. Der sehr edle Feinkostladen beispielsweise residiert neben Fantasy World, einem Geschäft für Kostümbedarf, das man – wenn die Kostüme im Fenster nicht wären – leicht für einen Sexshop halten könnte (und in der Tat gibt es ein Hinterzimmer, wo ›neustes Spielgerät für Erwachsene‹ angeboten wird).
    Das Örtchen ist eigentlich nicht mehr autark. Es gibt kein Postamt mehr, und im Pub und dem Fish & Chips Shop liefen die Geschäfte früher besser. Es gibt eine Apotheke, neben der Praxis, und ein Geschäft für Kinderschuhe, das wie Fantasy World hauptsächlich Kunden beliefert, die aus York oder Thirsk anreisen. Und das war’s dann auch schon.
    Für Rowan und Clara ist Bishopthorpe nichts Halbes und nichts Ganzes, man ist auf Busse und Internetverbindungen und andere Fluchtwege angewiesen. Ein Ort, der so tut, als sei er der Inbegriff des idyllischen englischen Dorfes, dabeisieht er wie die meisten nur wie eine Edelboutique aus, aber innen drin gibt’s nur schäbige Klamotten.
    Und wenn man hier lang genug lebt, muss man sich irgendwann entscheiden.
    Man kauft sich so eine Klamotte und tut so, als würde sie einem gefallen. Oder man sieht der Wahrheit ins Gesicht und erkennt, wer man wirklich ist.

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    FAKTOR SECHZIG
    Draußen im Tageslicht ist Rowan schockiert, wie blass seine Schwester ist. »Was glaubst du, was du hast?«, fragt Rowan, während sie an der Tonne mit dem Recyclingmüll vorbeigehen, über der sich die Fliegen versammeln. »Weshalb dir schlecht ist, meine ich.«
    »Ich weiß es nicht …« Ihre Stimme verebbt wie der Gesang der verängstigten Vögel, die ihre Nähe spüren.
    »Vielleicht hat Mum recht«, sagt er.
    Sie hält inne, um Kraft zu sammeln. »Sagt der Junge,
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