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Die Rache der Jagerin

Die Rache der Jagerin

Titel: Die Rache der Jagerin
Autoren: Kelly Medling
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Der Typ stand vor mir mitten im Sonnenlicht – er schien nicht zu zerbröseln, und es roch auch nicht verkohlt. Außerdem wäre ein Gargoyle mit dieser Körpergröße das Gespött seiner Artgenossen gewesen. Nein, der Geflügelte, der da vor uns aufragte, war etwas anderes, etwas Neuartiges.
    Anders und neuartig konnte ich nicht ausstehen.
    Die Kreatur kam nicht auf uns zu, aber ich ließ sie dennoch nicht aus den Augen. »Wyatt?«, fragte ich.
    »Alles bestens«, gab er zurück.
    »Wyatt Truman?«, sagte der Fremde. Eigentlich hätte ich eine kräftigere Stimme erwartet, denn zu seinen seltsamen Engelsflügeln hätte eher etwas Gottähnliches gepasst. Stattdessen klang er rauh, als hätte er zu viel Rauch eingeatmet, und sprach mit einer etwas schneidenden Stimme – zwar nicht sonderlich schrill, aber dennoch um einiges höher als die Tonlage der meisten Leute.
    Hinter mir spürte ich einen Luftzug. Vielleicht war es Wyatt, der sich erhob, doch ich drehte mich nicht um, um mich zu überzeugen. »Ja«, antwortete Wyatt.
    Im Geist ging ich die wenigen Waffen durch, die ich bei mir trug. Die Pistole hatte ich im Gehege weggeworfen, doch in der Scheide an meinem Fußgelenk steckte noch das Messer, das ich mit einer schnellen Bewegung zücken konnte.
    »Bist du Evangeline Stone?«
    Mir zuckte das besagte Fußgelenk. Aufgrund des Gegenlichts konnte ich nicht erkennen, ob er mich direkt ansah oder nicht. »Kommt darauf an, wer das wissen will und warum«, erwiderte ich. Indem ich mich mit beiden Händen abstützte, zog ich die Beine an und stand ganz langsam auf, um ihn nicht zu provozieren. Bevor ich nicht wusste, was er wollte und woher er unsere Namen kannte, war er mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Wyatt brachte sich links von mir in Position.
    »Du siehst nicht so aus, wie Danika dich beschrieben hat.«
    Mir stockte der Atem, und mein Gehirn war kurzzeitig überlastet. Danika war ein gutmütiges Mädchen aus dem friedlichen Volk von Gestaltwandlern gewesen. Die junge Werfalkenfrau war während des Überfalls der falsch informierten Triaden auf ihre Kolonie ums Leben gekommen. Bei diesem Überfall hatten die Triaden mich festnehmen wollen, doch ich hatte mich bereits aus dem Staub gemacht. Die Hohen Tiere hatten daraufhin eine der schlechtesten Entscheidungen ihrer Geschichte gefällt und das Mietshaus, in dem sich die Kolonie der Werwesen befunden hatte, anzünden lassen. Dabei waren mehr als dreihundert Kauzlinge umgekommen. Danika war eine von vielen Freundinnen und Freunden, die ich in der letzten Woche meines Lebens verloren hatte.
    »Danika ist tot«, entgegnete ich knapp.
    Der Fremde nickte. »Und ich traure um sie, so wie ich um den Rest meines Volkes traure.«
    »Du bist ein Kauzling?« Das war nicht möglich. Die Kauzlinge tauschten ihre menschliche Gestalt vollständig gegen den Vogelleib ein. Ich hatte noch nie davon gehört, dass ein Kauzling – oder irgendein anderes Werwesen – sich nur halb in ein Tier verwandelte.
    »Enttäuscht?«
    Ich funkelte ihn an, während mir das Blut in die Wangen stieg. »Nein, nur überrascht. Ich habe kurz geglaubt, ich wäre in einem billigen B-Movie gelandet, in dem Engel vom Himmel fallen.«
    Er besaß die Frechheit, darüber zu lachen. Eigentlich hätte mich der heitere Klang wütend machen müssen, doch stattdessen verspürte ich den Wunsch, ihn anzulächeln. »Dann möchte ich mich für meinen Auftritt entschuldigen«, sagte er. »Durch Überraschung kitzelt man meistens eine ehrliche Reaktion aus den Leuten heraus.«
    »Also«, meldete sich Wyatt zu Wort. »Meine ehrliche Reaktion ist Ärger. War es wirklich nötig, das Auto zu zermalmen?«
    Der Kauzling senkte den Blick. »Da habe ich wohl etwas überstürzt gehandelt.« Daraufhin sprang er vom Wagendach herunter und kam so elegant auf dem Asphalt auf wie ein Balletttänzer. Durch die Bewegungen seiner grau-braunen Schwingen, die er näher an sich heranzog, entstand um uns herum ein Luftzug. »Ich heiße Phineas el Chimal.«
    Aus der Nähe konnte ich das markante Gesicht zu dem durchtrainierten Körper erkennen. Er hatte ausgeprägte Wangenkochen und eine schmale Nase. Unter langen Wimpern schauten runde Augen hervor, die in einem Königsblau leuchteten, wie ich es noch nie gesehen hatte. Obwohl er kaffeebraunes Haar hatte, waren auf seinen Wangen keinerlei Bartstoppeln auszumachen. Alles in allem wirkte er wie ein Raubvogel; er erinnerte mich an den Fischadler, der letzte Nacht durch die Stadt geflogen war,
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