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Die Rache der Jagerin

Die Rache der Jagerin

Titel: Die Rache der Jagerin
Autoren: Kelly Medling
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etwas festzuhalten. Doch ich verzichtete darauf und stierte stattdessen auf die Hauswand vor uns. Und ich war froh um jeden Vorhang und jede Jalousie, die noch nicht hochgezogen waren.
    Nahe an meinem Ohr atmete er heftig aus, und ich spürte seinen Herzschlag im Rücken, der schneller ging als der eines Menschen. Sein ganzer Leib vibrierte vor Energie – so eine Kraft hatte ich bei einem Werwesen noch nie erlebt. Kein Wunder, hatten wir bisher noch nichts von Halb-Gestaltwandlern gewusst.
    Vor uns tauchte Chalices Balkon auf. Die eine Hälfte der gläsernen Schiebetür war eingeschlagen, und auch ein Teil des Rahmens war herausgerissen – Zeugnisse des Kampfes, der hier vor zwei Tagen getobt hatte. Da niemand außer den Triaden die Wohnung seither betreten hatte, leuchtete es auch ein, dass die Öffnung nicht mit Brettern verschlossen worden war. Denn die Triaden kümmerte es nicht.
    Phin landete auf dem schmalen Streifen aus Beton und Metall, aus dem der Balkon bestand. Weder Möbel noch sonst irgendwelche persönlichen Dinge standen herum. Allerdings war die Aussicht hier auch nicht sonderlich schön, so dass Chalice wahrscheinlich wenig Zeit hier draußen verbracht hatte.
    Phin ließ mich los und trat einen Schritt zurück. Als wir uns voneinander lösten, fühlte meine Haut sich kalt und rauh an. Es war, als hätte ich an einem frischen Herbsttag einen warmen Angorapulli ausgezogen und anschließend festgestellt, dass ich nur ein Tanktop darunter trug.
    »Danke für den Flug«, sagte ich.
    »War mir ein Vergnügen.«
    Zweifellos.
    Er grinste. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er, sprang vom Balkon und verursachte dabei einen kleinen Wirbelsturm.
    Der Windstoß zerzauste mir das Haar und zerrte an dem Vorhang, der innen vor der zerbrochenen Tür hing. Nachdem ich mir die Kette wieder umgehängt hatte, trat ich etwas näher. Vor dem Eintreten musste ich mir erst etwas Mut machen. Unten im Türrahmen steckten noch die zackigen Splitter der geborstenen Fensterscheibe, die in Kniehöhe an ein scharfes Gebiss erinnerten. Die Blutspritzer auf dem Teppich waren schwarz und eingetrocknet, und der Kerzenhalter lag noch immer auf dem Boden. Alles war mit Scherben übersät.
    Bei dem Handgemenge mit zwei Jägern, die versucht hatten, mich einzufangen, hatte Alex sich gut gehalten. Von Anfang an hatte er sich besser im Griff gehabt, als ich erwartet hatte.
    Mir krampfte sich der Magen zusammen, und ich ballte die Hände zu Fäusten, damit sie nicht zitterten. Gleich würde ich in dieses Apartment zurückkehren. Nein, in unser Apartment. Chalice schwirrte ja nun auf Dauer in meiner Seele herum. Ich hatte keine Ahnung, welche Gefühle mich überkommen würden, wenn ich da hineinging.
    Ich hob ein Bein über den gezackten Glasrand der Scheibe, und als ich auftrat, knirschten Scherben unter meiner Sohle. Dann schob ich den Oberkörper durch die Öffnung, wobei ich auf die spitzen Kanten achtete, um mir nicht die Haut daran zu ritzen. Schließlich drehte ich mich und zog das andere Bein nach. Nun stand ich mit dem Gesicht der zertrümmerten Tür zugewandt, und in meinem Rücken lag Chalices früheres Leben.
    Dieselben Gerüche, die mir vom letzten Mal noch bekannt waren, drangen mir in die Nase: abgestandenes Bier, Putzmittel, ein Vanilleduft, der wahrscheinlich von einer Kerze stammte. Obwohl zwei Tage lang gelüftet worden war, hatten sie sich nicht verflüchtigt, und es war warm und feucht wie in einem Keller. Fast roch es etwas modrig, wofür wohl der nicht geleerte Mülleimer verantwortlich war.
    Ein weiterer Windstoß kündigte Phins und Wyatts Ankunft an. Wyatt war blass und schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an. Offenbar entdeckte er etwas in meinem Blick, denn seine Gesichtszüge wurden weicher. Vor lauter Sorge um mich vergaß er sein eigenes Unbehagen.
    »Evy? Alles okay mit dir?«, fragte er.
    »Klar«, sagte ich. Lügnerin.
    »Lügnerin.«
    Seitwärts trat Phin ein und stellte sich hinter Wyatts rechte Schulter. Wie durch ein Wunder waren seine Flügel verschwunden. Er hatte sie nicht einfach nur eingeklappt, sondern sie waren schlichtweg nicht mehr zu sehen. Der Tag wurde immer surrealer. »Stimmt etwas nicht mit ihr?«, fragte er.
    »Lass ihr einen Moment Zeit«, sagte Wyatt.
    »Für was?«
    »Ich brauche keinen Moment für mich«, entgegnete ich, wobei meine Stimme zuversichtlicher klang, als ich mich fühlte. Ich drehte mich um und ging drei Schritte in die Wohnung hinein, bevor ich auf die Knie fiel.
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