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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Autoren: Ju Honisch
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alle, die er kannte. Sie klang, als wäre sie in ernsten Schwierigkeiten.
    Nur, wo war sie? Kanura ließ den Blick weit über das Sonntal schweifen, doch er konnte sie nirgends entdecken. In Menschengestalt mochte sie durch das Buschwerk und die spärlich wachsenden Bäume verdeckt sein. Als Einhorn sollte er sie aber ausmachen oder zumindest ihre Anwesenheit spüren können.
    Wieder erschallte die Stimme. Nun klang sie eindeutig furchtsam. Ein flaues Gefühl breitete sich in Kanuras Magen aus. Seine Sinne suchten, dies zu deuten, doch er konnte nichts davon zuordnen.
    » Eryennis? « , rief er leise, gleichermaßen bemüht, gehört zu werden und nicht aufzufallen. » Eryennis, wo bist du? «
    Eryennis, Edoryas und er waren das führende Trio der Jung-Einhörner. Sie waren es, die die Wildheiten ersannen, mit denen sie ihre Zeit verbrachten und sich amüsierten. Und mit denen sie die ältere Generation regelmäßig zum Verzweifeln brachten und sich Bezeichnungen einhandelten wie » verantwortungslos « , » sittenlos « , » halbstark « oder » leichtfertig « .
    Sie jagten durch Talunys, rauften und liebten sich – jenseits von Etikette oder dynastischer Planung. Sie pfiffen auf die Sippenzugehörigkeit, achteten untereinander weder auf Rang noch Grenzen und ließen es auch an Respekt gegenüber ihren älteren Verwandten oder den Schanchoyi mangeln.
    Das ureigenste Wesen der Tyrrfholyn sei, gut zu sein, hatte man ihnen allen beigebracht. Doch Kanura und seine Freunde waren da anderer Meinung. Das ureigenste Wesen der Tyrrfholyn war es, frei zu sein.
    Nun war Edoryas tot. Eryennis rief ihn. Und er floh? Hatte er seinen Freunden gegenüber nicht auch eine Verantwortung? Was war seine Freundschaft sonst wert?
    Es war eine Falle. Er war sich fast sicher. Aber nicht ganz. Was, wenn Eryennis wirklich seine Hilfe brauchte und er sich abwandte und davonrannte?
    Das flaue Gefühl breitete sich von seinem Magen im ganzen Körper aus. Sein Horn schmerzte, und er war überzeugt, dass seine Wahrnehmung immer noch eingeschränkt war. Es fühlte sich an, als läge ein eisiger Sack über seinem Kopf, und er sollte durch ihn sehen, hören und riechen.
    » Eryennis! « , rief er wieder, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu helfen und der bohrenden Ahnung, dass die Stimme seiner Freundin nur ein böser Spuk war, nur dazu da, ihn erneut in die Nähe des Wassers zu locken. Einen weiteren Kampf würde er nicht überleben, verletzt wie er war.
    Er musste die Sippen informieren und über das berichten, was er so schmerzvoll gelernt hatte: Die Uruschge waren tatsächlich zurückgekehrt, sie konnten sich in eine andere Gestalt verwandeln und dadurch täuschen. Und sie waren schwer zu besiegen.
    Wenn er jetzt nicht mit den Sippen sprach, würde er sich schuldig machen an jedem weiteren Tod eines Einhorns, das die Gefahr nicht kannte.
    Vielleicht wussten die Schanchoyi ja auch, was es mit der fremden Seele auf sich hatte, die er auf so schmerzliche Weise geerbt hatte. Er musste sie in Sicherheit bringen. Ssenyissa hätte nicht gewollt, dass er ihre Seele zusammen mit seiner Haut zu Markte trug.
    Doch Vernunft kämpfte mit dem Bedürfnis, seiner Freundin zu helfen, umso mehr, als er einen Freund bereits verloren hatte. Auch hier lag Verantwortung und Pflicht. Und mehr als das. Er war sich immer bewusst gewesen, dass Eryennis seinem Herzen näher war als andere Stutenmädchen. Da sie zu einer anderen Sippe gehörte, hätte sein Vater es gerne gesehen, wenn sie einander nicht so nahe gekommen wären, denn er fürchtete dynastische Verwicklungen und politische Folgen. Doch das war Kanura egal gewesen.
    In Menschengestalt hatten sie mehr als einmal miteinander geschlafen – dynastische Pläne hin oder her. In Menschengestalt waren die Thyrrfholyn unfruchtbar. Es war Liebesspiel, nicht mehr. Manchmal hatten sie auch zu dritt mit Edoryas dieses Spiel betrieben. Das würde nun nie wieder geschehen.
    Widerwillig setzte er erst einen Schritt, dann den nächsten in Richtung See. Er ließ sich Zeit. Wozu sollte er sich beeilen? Da war nur eine Stimme. Wohin sollte er überhaupt? Zum See natürlich. Aber dort sah er nichts außer einer Wasseroberfläche, die sich in einer sanften Brise leicht kräuselte, an manchen Stellen mehr als an anderen.
    Hätte er die Nymphe retten können, wenn er sich mehr beeilt hätte? Sollte er daraus lernen und sich schneller nähern?
    Er war Kanura, Fürstensohn, Prinz der Ra-Yurich. Feigheit geziemte sich nicht. Er
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