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Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)

Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Autoren: Richard Doetsch
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werden konnte. Einen Augenblick lang hatte Gott diesem Künstler Einblick in seine Schöpfung gewährt. Und was davon geblieben war, war dieses Gemälde.
    Govier war kein berühmter Maler, doch sein Name sollte in nächster Zeit für Schlagzeilen sorgen. Das Tagebuch seiner Schwester war erst kürzlich gefunden und für echt erklärt worden. Es war die letzte Seite, die das Interesse in aller Welt auf sich ziehen sollte – ein Bericht über Goviers Tod im Jahre 1610. Die Kunstwelt stürzte sich regelrecht darauf, denn was die Dramatik seines Lebens anging, konnte Govier es mit einem Vincent van Gogh aufnehmen.
    Um Farbe kaufen zu können, verdingte Govier sich im Dreifaltigkeitskloster als Mädchen für alles. Jede Woche ritt er ins schottische Hochland, brachte den Mönchen Waren und nahm kleinere Reparaturen vor. Es war an einem Sonntag – er versiegelte ein Loch im Dach mit Pech –, als er ein Gespräch mit einem Mönch namens Zhitnik anfing, der im Sterben lag. Govier konnte das Englisch des Mannes, der mit starkem russischem Akzent sprach, kaum verstehen, aber sie sinnierten über das Wetter, die Natur und das Leben. Im Laufe der Unterhaltung kamen sie auch auf die Kunst und auf Gott zu sprechen – Themen, die beiden Männern sehr am Herzen lagen. Zhitnik erzählte von den großen Kunstwerken in Moskau, besonders von denen im Kreml, und Govier lauschte gebannt. Der Mönch sprach von Legenden und Geschichten über Gott und die Engel – von Märchen, die Govier an jenem Abend mit Ehrfurcht erfüllten. Dann sagte der Künstler dem sterbenden Mönch Lebewohl. Doch als er das Zimmer verlassen wollte, rief der Mönch ihn noch einmal zurück an sein Bett und gab ihm zwei Stücke dicker Leinwand. Der Mönch bat ihn, zwei Bilder zu malen, die jene Geschichten darstellten, die er ihm erzählt hatte, und sie an eine Adresse in Südeuropa zu schicken. Er gab Govier das Kreuz, das er um den Hals trug, und bat, es zusammen mit der Leinwand zu schicken, um die Echtheit zu beweisen. Der Mönch konnte außer Gebeten keine Bezahlung anbieten und schickte Govier mit seinem Segen auf den Weg.
    Wie verzaubert machte Govier sich an die Arbeit, schuftete ohne Pause zwei Wochen lang, brachte die Geschichten des Mönches auf die Leinwand und schuf »Das Vermächtnis« und »Die Unsterbliche«. Am Morgen nach ihrer Fertigstellung weinte Govier beim Anblick ihrer Schönheit und der wahrhaftigen Darstellung Gottes, ehe er die Gemälde mitsamt dem Kreuz abschickte, wie der Mönch es gewünscht hatte. Dann sprang er von der Fonx Tower Bridge in den tosenden St. Ann River und wurde über die Fallkante des Wasserfalls gespült.
    Während »Die Unsterbliche« verschollen war, wechselte »Das Vermächtnis« mehrmals innerhalb Europas den Besitzer, bis das Gemälde seinen Platz im Familienbesitz der Trepauds fand, die bis zum 14. Juni 1940 außerhalb von Paris residierten; dann stürmten die Nazis die Stadt und plünderten zahlreiche Kunstwerke, darunter »Das Vermächtnis«.
    Das Werk überstand den Krieg und ging durch viele Hände. Inzwischen befand es sich in einem klimatisierten Kellergewölbe der Firma Belange, an einem Ort, den außer McShane, dem Käufer des »Vermächtnis«, nur noch der schwarz gekleidete Mann kannte, der über den Flur des Kellergeschosses huschte.
    Michael klammerte sich an die Zimmerdecke und hatte die Knie und Hände an die Griffstützen aus Aluminium geschnallt. Sein Körper befand sich nur knapp außerhalb der Reichweite der Videoüberwachungskamera, die im Zwanzigsekundentakt einen Radius von einhundertfünfzig Grad erfasste. Der Raum war schlicht, ausgestattet mit zwei opulenten Sesseln und einer Couch. Die Wände waren aus dunklem Kirschholz, und das Licht war gedämpft; es kam aus einer einzigen Lampe und einer Bilderrahmenleuchte. Auf dem Boden lag ein flauschiger grüner Teppich, mit feinen Metallfäden durchzogen. Niemand konnte das unauffällige Flechtwerk sehen, doch ein unachtsamer Schritt, und man bekam einen Schlag wie von einer Elektroschockpistole, was jeden Eindringling auf der Stelle in ein Häufchen Elend verwandelte, das kläglich sabbernd auf dem Boden lag und erst einmal gelähmt war.
    Michael hatte sich lange und ausgiebig mit Goviers Gemälde befasst. Doch alle Vorarbeit hatte ihn nicht annähernd auf das vorbereitet, was sich jetzt vor ihm auftat. Das Gemälde vollkommen zu nennen, wäre eine Untertreibung gewesen. Michael hatte sich vornehmlich darauf konzentriert, wie das Bild auf den
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