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Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

Titel: Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Mo Hayder
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lauscht.
    Monster Mother – oder Gabriella Jackson, wie sie mit richtigem Namen heißt – ist eine von AJs Lieblingspatienten. Die meiste Zeit ist sie eine sanftmütige Seele. Und wenn sie nicht sanftmütig ist, lässt sie es meistens an sich selbst aus. Sie hat Schnittwunden an Waden und Schenkeln, die nie mehr ganz verheilen werden, und ihr linker Unterarm fehlt. Den hat sie sich eines Nachts mit einem elektrischen Tranchiermesser abgeschnitten. Sie hat ganz ruhig in der Küche ihrer noblen Villa gestanden und das Gemüseschneidebrett benutzt, um den Arm darauf zu legen. Sie wollte ihrem begriffsstutzigen Ehemann beweisen, wie ernst, wie furchtbar ernst es ihr damit war, dass er keine neue Affäre eingehen sollte.
    Der abgeschnittene Arm ist der Hauptgrund dafür, dass Monster Mother in Beechway ist – er und ein paar andere »Macken« in ihrer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zum Beispiel ihre Überzeugung, sie habe alle anderen Patienten geboren. Sie seien allesamt Monster und hätten abscheuliche Taten begangen, weil sie ihrem vergifteten Schoß entsprungen seien. Den Namen »Monster Mother« hat sie sich selbst gegeben, und wenn man lange genug mit ihr redet, wird man einen detaillierten Bericht über die Geburt eines jeden Patienten der Klinik bekommen – wie lang und beschwerlich die Wehen waren und wie sie auf den ersten Blick hat sehen können, dass das Baby böse war.
    Die zweite Macke ist ihre Überzeugung, sie könne ihre Haut abziehen. Und wenn sie es tut, ist sie unsichtbar.
    AJ klopft noch einmal. »Gabriella?«
    Die Dienstvorschrift verlangt, dass der Patient immer mit seinem richtigen Namen angeredet wird, ganz gleich, welche Fantasien er zu seiner Identität entwickelt.
    »Gabriella?«
    Nichts.
    Leise öffnet er die Tür und schaut ins Zimmer. Sie liegt im Bett, zugedeckt bis zum Hals, und starrt ihn an. Ihre Augen sind groß wie Untertassen. AJ weiß, was das bedeutet: Sie »versteckt sich«. Ihre »Haut« ist irgendwo anders im Zimmer, wo sie die Aufmerksamkeit von ihr ablenkt. Er reagiert nicht auf diesen Wahn; zwar darf er behutsame Zweifel zum Ausdruck bringen, muss aber jeden direkten Widerspruch vermeiden. (Dienstvorschrift.)
    Ohne Blickkontakt herzustellen, tritt er ein, setzt sich hin und wartet. Schweigen. Nicht mal ein Murmeln. Aber AJ kennt Monster Mother, und er weiß, sie kann nicht ewig still sein.
    Und richtig, schließlich setzt sie sich auf und flüstert: »AJ. Ich bin hier.«
    Er nickt langsam, sieht sie aber immer noch nicht direkt an. »Alles okay?«
    »Nein. Machen Sie die Tür zu?«
    Bei den meisten Patienten im Haus würde er die Tür hinter sich nicht schließen, aber Monster Mother kennt er seit Jahren, und er ist jetzt Pflegedienstleiter und hat Verantwortung. Also steht er auf und drückt die Tür zu. Sie rutscht in ihrem Bett nach oben. Siebenundfünfzig ist sie, aber ihre Haut ist faltenlos und weiß wie eine Eierschale, und ihr Haar ist eine rote Explosion. Sie hat außergewöhnliche Augen – ein strahlendes Blau mit dunklen Wimpern. Es sieht aus, als brauchte sie Stunden, um Wimperntusche aufzulegen. Sie gibt ihr ganzes Taschengeld für Kleidung aus, und ihre Sachen würden eher zu einer Sechsjährigen auf einer Märchenparty passen: nichts als schwebender Tüll in allen Farben des Regenbogens, Ballettröcke, Rosen im Haar.
    Die Farbe, für die sie sich entscheidet, verrät, wie sie die Welt an diesem Tag sieht. An guten Tagen sind es Pastelltöne: Pink, Babyblau, Schlüsselblumengelb, Flieder. An schlechten Tagen sind es dunkle Grundfarben: Weinrot, Tiefblau, Schwarz. Heute hängt ein rotes Spitzennegligé über dem Fußende, und das vermittelt AJ eine Ahnung von ihrer Stimmung. Rot bedeutet Gefahr. Es verrät ihm auch, dass ihre Haut über dem Fußende hängt. Sein Blick schweift ungefähr in die Mitte zwischen dem Negligé und ihrem Gesicht. Irgendwo auf die Wand über ihrem Bett. Neutrales Terrain.
    »Was ist denn, Gabriella? Was bedrückt Sie?«
    »Ich musste sie abnehmen. Es ist nicht sicher hier.«
    AJ widersteht dem Drang, die Augen zu verdrehen. Monster Mother ist lieb und sanft und, jawohl, verrückt, aber meistens lustig verrückt, nicht aggressiv verrückt. Er lässt sich Zeit mit der Antwort, und wieder vermeidet er es, ihrem Wahn zu widersprechen oder sie darin zu bestätigen. »Gabriella – haben Sie heute Abend Ihre Medikamente genommen? Sie haben sie doch genommen, oder? Sie wissen, ich kann die Leute von der Medikamentenausgabe fragen, ob sie es
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