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Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)

Titel: Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
Autoren: Nancy Bilyeau
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Allgemeinen als wünschenswert erachtet. Der Gestank nach Blut und Verwesung war den Bewohnern ein ständiger Begleiter, und mit der Zeit begann ich ihn als Mahnung daran zu begreifen, dass hinter der gefälligen Fassade des Dorfs auch Hässlichkeit lauerte.
    An diesem Morgen allerdings dachte ich daran nicht, als ich über die Wasserlachen auf der Straße sprang, um zum imposantenWahrzeichen des Dorfs, der Dreifaltigkeitskirche, zu gelangen. Ihr kantiger normannischer Turm mit den fünf Fuß dicken Mauern war meilenweit zu sehen.
    Als ich den Vorplatz erreichte, hörte ich hinter mir die Stimmen meiner Freunde.
    »Schwester Joanna, guten Morgen.«
    Bruder Edmund und Schwester Winifred, beide groß und schlank, mit aschblondem Haar und dunklen braunen Augen, waren auf den ersten Blick als Geschwister erkennbar. Während ich vor dem Portal auf sie wartete, musterte ich, mehr aus Gewohnheit denn Besorgnis, Bruder Edmunds feinnervige Züge. Jahrelang hatte er mit einer sorgsam geheim gehaltenen Abhängigkeit von einer berauschenden Tinktur gekämpft, die aus der roten Blume Indiens hergestellt wurde. Seit er mir das im Kloster gestanden und gelobt hatte, nie wieder schwach zu werden, achtete ich mit besonderer Aufmerksamkeit auf ihn, um nur ja keine verräterischen Anzeichen eines Rückfalls zu übersehen: eine unnatürliche Ruhe oder schläfrige Teilnahmslosigkeit. Nach der Auflösung des Klosters hatte sich Bruder Edmund als Apothecarius und Heiler in den Dienst des Dorfes gestellt und dafür gesorgt, dass das Hospital, das vorher zum Kloster gehört hatte, geöffnet blieb. Ich fürchtete, im täglichen Umgang mit Arzneien und Betäubungsmitteln könnte seine Entschlossenheit bröckeln, aber seine Augen waren heute so klar wie jeden Tag seit beinahe einem Jahr.
    Sobald die Geschwister zu mir traten, sah ich, dass ich mich eher um Schwester Winifred sorgen sollte als um ihren älteren Bruder. Ihr Gesicht war aschfahl und eingefallen. Ich wusste, dass sie unter der feuchten Marschluft in Dartford litt, vor allem nach Regennächten. »Geht es Euch gut, Schwester?«, fragte ich, als wir die Kirche betraten.
    »O ja«, versicherte sie schnell.
    Der Klang unserer Schritte hallte in der Kirche wider, die erfüllt war vom lebendigen Licht unzähliger Kerzen auf dem Hochaltar, in der Kapelle des heiligen Thomas Becket und auf demBoden rund um die Messingplatten zum Gedenken an die toten Edelleute von Dartford.
    Wir drei schienen die einzigen Kirchenbesucher zu sein. Doch wir waren nicht allein. Hundert Fuß in der Höhe, hoch über der Sakristei, schimmerte das Licht einer Kerze durch drei senkrechte Schlitze. Und hinter ihnen bewegte sich eine dunkle Gestalt.
    Pater William Mote, der Pfarrer der Dreifaltigkeitskirche, beobachtete uns von seinem Privatgemach aus.
    Bruder Edmund schaute nach oben. Auch er bemerkte, dass wir beobachtet wurden, und legte seiner Schwester den Arm um die Schultern, während wir unseren Weg zum Altar der Heiligen Jungfrau Maria in der Südostecke der Kirche fortsetzten. Ich weiß nicht genau, wie es kam, dass wir Flüchtlinge aus Kloster Dartford von der Gemeinde ausgegrenzt wurden. Niemand sagte, dass wir unwillkommen seien. Man tat so, als geschähe es in unserem eigenen Interesse. »Die besondere Verehrung Eures Ordens gilt doch der Jungfrau Maria – würdet Ihr Euch nicht in der Kapelle, die ihr geweiht ist, mehr zu Hause fühlen?« Nicht Pater William würde für uns die Messe zelebrieren, sondern wie stets der tatterige alte Pater Anthony, und wir würden sie getrennt vom Rest der Gemeinde feiern, um – die Höhe der Beleidigung – »Durcheinander zu vermeiden«.
    Ich dachte daran, wie viel Gutes unser Kloster über Generationen für das Dorf getan hatte – nicht nur in seiner Eigenschaft als Grundbesitzer und Arbeitgeber, sondern auch als Mäzen des Armenhauses und des Hospitals, vor allem aber durch seine Schule für Mädchen. Es war der einzige Ort, wo Mädchen aus guten ortsansässigen Familien Lesen und Schreiben lernen konnten. Andere Möglichkeiten gab es nicht. Und trotzdem wurden wir behandelt wie minderwertiges Vieh, das aus der Herde entfernt werden musste. Ich tauchte die Finger in das Weihwasserbecken am Eingang zur Kapelle. Doch bevor ich Schwester Winifred folgte, drehte ich mich um und sandte einen zornigen Blick zu Pater Williams verstecktem Beobachtungsplatz hinauf. Du solltest dich schämen , dachte ich.
    Bruder Edmund schüttelte den Kopf. Geradeso wie ich auf das
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