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Die Pflanzenmalerin

Titel: Die Pflanzenmalerin
Autoren: Martin Davies
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Drossel oder eine Amsel oder irgendetwas dazwischen. Er hätte in einen Vorortgarten hüpfen können, ohne dass man groß Notiz von ihm genommen hätte.
    »Du lieber Himmel!«, rief Potts. »Das ist er? Und deswegen der ganze Wirbel?«
    Doch Anderson und Gabriella gingen in die Hocke und nahmen ihn durch die beiden intakten Scheiben genau in Augenschein. Ich holte tief Luft und schaltete die Deckenlampe an, damit sie besser sehen konnten. Das Licht machte einen großen Unterschied.
    Man sah sofort, dass der Vogel in keinem guten Zustand war. Er war etwas unförmig, als wäre sein Körper durch die Schwerkraft ein wenig abgesackt, und in dem grelleren Licht zeigte sich, dass das einst rotbraune Gefieder da und dort zu einem stumpfen Grau verblasst war. Eine Stelle am Hals sah aus, als hätte jemand an den Federn gerissen, sodass sie jetzt in einem würdelosen Büschel hochstanden. Aber man erkannte in dem Licht auch die Farbschattierungen, die ihn kennzeichneten, die feine Musterung, die ihn von einer Amsel oder einer gewöhnlichen Drossel unterschied und ihn zu etwas anderem, Unbekanntem machte.
    Anderson sah mich mit leuchtenden Augen an. »Was meinen Sie? Ist er’s?«
    Ich zuckte die Schultern. Ich genoss die Szene nicht in dem Maß, wie ich es mir erhofft hatte. »Er könnte es zweifellos sein.«
    Anderson begann, Gabriella auf Einzelheiten hinzuweisen. Sie nickte und sah sich den Vogel bis ins kleinste Detail an. Beide waren keine Spezialisten, aber beide verstanden etwas von Vögeln und von präparierten Exemplaren, und sie wussten, wonach sie suchten. Potts ließ sie nicht aus den Augen, beobachtete ihre Reaktionen. Katya nahm meinen Arm und lehnte sich leicht an mich. Ich schloss die Augen und wartete. Anderson murmelte Forsters zweihundert Jahre alte Beschreibung vor sich hin: »Kopf dunkel, braun gezeichnet... Schwingen dunkel... Schwungfedern braun gesäumt... zwölf Schwanzfedern...« Schließlich richtete er sich wieder auf, und ich hörte seine Knie knacken.
    »Man müsste natürlich seine Herkunft kennen«, sagte er, fast wieder in seinem üblichen Ton.
    »Ich weiß.«
    Meine Selbstgewissheit schien ihn zu überraschen. »Und Tests durchführen.«
    »Natürlich. Die Laborleute wollen ja schließlich was zum Herumstochern haben.«
    Er beugte sich erneut zu dem Vogel hinab. »Ein wahres Wunder, dass es ihn noch gibt.«
    »Ein Wunder? Vielleicht. Jedenfalls ein erstaunlicher Glücksfall.«
    »Du lieber Himmel!«, schnaubte Potts. »Machen wir hier Geschäfte oder nicht? Vogel-Spotting können Sie später betreiben; für den da kriegen Sie höchstens ein paar tausend Dollar. Aber was ist mit den Bildern? Wir müssen die Vitrine aufmachen.«
    »Nein.« Ich streckte die Hand aus, um ihn vom Bett fern zu halten, und mein gebieterischer Ton schien ihn zu überraschen. »Sie beide sind an den Bildern interessiert, ich an dem Vogel. Also macht niemand die Vitrine auf, bis wir die richtigen Bedingungen haben, die richtige Luftfeuchtigkeit und das ganze Drum und Dran. Das ist Teil des Deals. Egal, was passiert, der Vogel wird sachgemäß behandelt. So, und jetzt gehen wir wieder runter und reden über Zahlen.«
    Ich beugte mich vor und schlug das Packpapier wieder um den Kasten, damit der Vogel vor Licht geschützt war. Im Hinausgehen schloss ich die Tür sorgsam ab.
    Ich beobachtete Anderson, als er auf dem großen Samtsofa in der Bar Platz nahm. Im Mecklenburg Hotel hatte er auf meinen Großvater angespielt. Damals hatte ich darin die Verachtung des geborenen Siegers für den geborenen Verlierer gesehen. Aber vielleicht hatte ich mich getäuscht. Wie mein Großvater hatte auch Anderson seine Expedition gestartet, weil er das Gefühl hatte, etwas, woran außer ihm niemand glaubte, sei zum Greifen nahe. Vielleicht fürchtete er wie mein Großvater, irgendein verrückter, unvorhersehbarer Zufall könnte ihm zuvorkommen. Jetzt war der Zufall da, der Blitz hatte eingeschlagen. Zu guter Letzt war ich derjenige, der den Vogel in Händen hielt.
    Trotzdem war Anderson noch sehr viel besser dran als mein Großvater. Zu dem Zeitpunkt, als Chapin seinen erfolgreichen Beutezug ins Kongobecken unternahm, von dem er mit den lebenden Exemplaren des Kongopfaus zurückkehrte, waren mein Großvater und sein Gefährte wahrscheinlich schon am Ende ihrer Reise angelangt. Zwei Jahre später fanden zwei französische Landvermesser die Reste ihrer Ausrüstung, meilenweit östlich von dem Ort, an dem Chapin seine Pfauen entdeckt hatte.
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