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Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin
Autoren: Ricarda Jordan
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natürlich wusste, dass es im Zweifelsfall für Menschen ihres Glaubens keinen Schutz gab. Wenn eine Seuche ausbrach, wenn Missernten sich häuften oder ein Feuer wütete, suchte man die Schuld gern bei den Juden. Und brach der christliche Mob erst einmal ins Ghetto ein, waren die Mauern dem Überleben eher hinderlich, da sie jede Flucht unmöglich machten.
    Rachel wappnete sich gegen den Gestank von billigem Bier und Spanferkel am Spieß, der um diese Zeit meist aus dem »Güldenen Rad« drang und die Nasen der umwohnenden Gläubigen beleidigte. Nun sollte in einer so kalten, nassen Nacht zumindest nicht allzu viel Betrieb herrschen. Selbst das lichtscheue Gesindel, das sich sonst hier herumtrieb, drängte sich heute in den dunklen Ecken schäbiger Kaschemmen. Dennoch hatte Rachel ihren Lohn sicherheitshalber bei den Metzens gelassen. Um ihr Leben und ihre Ehre fürchtete sie nicht so sehr. Schließlich war sie nicht mehr jung, und schön war sie nie gewesen. Und Fleisch war billig in der Gegend um das »Güldene Rad«! Der Wirt verschacherte junge Huren für wenig Geld; obendrein lungerten meist ein paar verzweifelte Mädchen in den Gassen rund um die Schenke und versuchten, auf eigene Rechnung ein paar Kupferpfennige zu verdienen.
    Tatsächlich waren die Gassen vor der Wirtschaft in dieser Nacht menschenleer, auch wenn drinnen reger Betrieb herrschte. Man hörte Gläserklirren und obszöne Lieder. Angewidert zog Rachel ihren Umhang straffer um den Körper und mühte sich, rasch vorbei zu kommen. Aber dann vernahm ihr geübtes Ohr Frauenschreie. In dem Grölen und Lärmen, das aus der Kneipe drang, waren die Schreie kaum zu vernehmen. Ob die Kerle da drinnen ein Mädchen schändeten? Rachel zwang sich, weiterzugehen. Sollte ihre Befürchtung zutreffen, konnte sie dem armen Ding ohnehin nicht helfen. Sie murmelte rasch ein Gebet.
    Doch als sie den Durchgang zum Innenhof der Schenke erreichte, wurden die Schreie lauter. Und sie kamen nicht aus der Schenke, sondern vom Hof dahinter. Rachel packte das kleine Messer, das sie immer bei sich trug, wenn sie diesen Teil des Viertels durchquerte. Sie war eine couragierte Frau, und selbst wenn sie am Galgen enden sollte, falls sie tatsächlich einmal einen christlichen Gauner vor seinen himmlischen Richter befördern sollte: Kampflos ergeben würde sie sich nicht! Und dieses Mädchen konnte sie nicht ihrem Schicksal überlassen, ohne sich wenigstens davon zu überzeugen, was vor sich ging. Vielleicht schrie ja bloß eine Hure in Ausübung ihrer Profession. Aber das arme Ding konnte durchaus auch Jüdin sein! Für die Kerle wäre das eine zusätzliche Verlockung, denn in diesem Fall wäre das Mädchen sicher noch Jungfrau - und ihre Schändung würde von den Stadtbütteln kaum geahndet werden. Sicher, die Juden standen auf dem Papier unter dem Schutz des Bischofs, doch bis eine Klage zu diesem hohen Herrn durchdrang, war die Untat wohl schon verjährt.
    Beherzt betrat Rachel den Hof hinter der Schenke. Hier befand sich der Abtritt, der bestialisch stank, wobei er mit dem Abfallhaufen in einer anderen Ecke des Gelasses konkurrierte. Ein paar streunende Katzen, die sich an halb verfaulten Innereien gütlich getan hatten, stoben auseinander. Es gab allerdings auch einen Pferdestall, und Rachel fand schnell heraus, dass die Schreie des Mädchens aus diesem Verschlag drangen. Sie wurden nun schwächer, jedoch langgezogener, kläglicher, und in Rachel, der erfahrenen Hebamme, keimte ein Verdacht: Diese Frau wehrte sich nicht gegen männliche Angreifer. Wenn Vergewaltigung die Ursache ihrer Schmerzensschreie war, so lag die Untat neun Monate zurück.
    Rachel folgte den Schreien, die von Wimmern und Weinen unterbrochen wurden, und hörte bald weitere Frauenstimmen.
    »So viel Blut! Das darf nicht sein, Annchen, da stimmt was nicht ... und das Kind sollte auch mal zu sehen sein. Aber sie presst nur und presst, und da kommt nichts!«
    »Was verstehst du schon davon, Lene! Die einzigen Kinder, die aus dir rausgekommen sind, hat doch der Engelmacher rausgekratzt.« Die Angst in der noch jungen Stimme strafte die harte Wortwahl Lüge.
    Rachel sah die Sprecherinnen nun vor sich: zwei Mädchen, die eine schmutzige Tranlampe in der äußersten Ecke des zurzeit leeren Stalles entzündet hatten und sich nun in deren trübem Funzellicht über ein wimmerndes, zartes Frauenzimmer beugten, das offensichtlich in den Wehen lag. Eine der besorgten Helferinnen war rotblond und lang aufgeschossen, die
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