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Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva
Autoren: Andrea Camilleri
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aber dem Baron fehlte es nie an Benzin. Bei seinen ersten Besuchen zahlte er jeweils eine halbe Stunde, danach handelte er mit Signora Flora einen Preis aus.
    Siria, die bis dahin ein fröhliches, unbefangenes Mädchen gewesen war, wurde mit einem Mal still und wie geistesabwesend, als hinge sie ihren Gedanken nach.
    »Sag mal, Siria, hast du dich vielleicht in den Baron verliebt?«
    »Können wir bitte von etwas anderem reden, Nenè?«
    »Und ist er auch in dich verliebt?«
    »Ich sagte, ich möchte nicht darüber reden!« In der Nacht vom dritten auf den vierten Juni traf eine Bombe das Landhaus des Barons. Die Bombe musste ziemlich groß gewesen sein, denn von dem Gebäude blieben nur ein Berg aus Staub und ein paar Holzsplitter übrig, die von den Möbeln stammten. Als die Hilfsmannschaft in den Trümmern nach Überlebenden suchte, fanden sie eine Hand, an deren Finger der Ring mit dem Familienwappen des Barons steckte. Sie fanden auch einen Fuß und etwas, das einmal der Kopf eines Menschen gewesen sein musste. Das war alles, was vom Baron Giannetto Nicotra di Monserrato übrig geblieben war. Sein Sportwagen war verschwunden. Vielleicht hatte ihn jemand entwendet, bevor die Hilfsmannschaft eingetroffen war. Als der Schwager des Barons von dem Bombenangriff hörte, eilte er nach Vigàta, sammelte die Überreste ein und brachte sie zur Beisetzung nach Palermo.
    Siria wurde ohnmächtig, als sie vom Tod des Barons hörte, und dann so aufgebracht, dass der Arzt kommen und ihr eine Beruhigungsspritze geben musste. Daraufhin gab ihr Signora Flora zwei Tage frei, Samstag und Sonntag. An beiden Tagen schloss sie sich in ihr Zimmer ein und weinte. Am Montagmorgen wirkte sie schon etwas ruhiger. Nach der ärztlichen Untersuchung bat sie Signora Flora, an den Ort gehen zu dürfen, wo der Baron gestorben war, versprach aber, rechtzeitig wieder zurück zu sein, um gemeinsam mit den anderen Mädchen zu essen. Signora Flora riet ihr von der Idee ab, aber Siria war nicht davon abzubringen. Als sie zum Abendessen noch nicht zurück war, begann Signora Flora, sich Sorgen zu machen, und bat Jacolino nachzuschauen, ob Siria noch immer vor den Trümmern von Giannetto Nicotras Haus weinte. Jacolino machte sich auf den Weg. Als er bei dem zerstörten Haus ankam, konnte er Siria nirgendwo entdecken. Signora Flora wartete bis sieben Uhr abends, dann entschloss sie sich, bei den Carabinieri eine Vermisstenanzeige aufzugeben.
    Das Abendessen mit Ciccio, Nenè und Jacolino glich einer Beerdigungsfeier. Niemand war nach Lachen zumute, alle dachten an Siria.
    »Hoffentlich hat sie keine Dummheiten gemacht«, sagte Carmen und sprach damit aus, was die anderen dachten, aber nicht zu sagen wagten.
    Siria blieb verschwunden. Man fand sie weder tot noch lebendig. Ihre paar Habseligkeiten hatte sie in ihrem Zimmer zurückgelassen und nur mitgenommen, was sie immer bei sich trug: ein paar Lire, ihren Pass, zwei Fotos, eins ihres Vaters, eins ihrer Mutter, und ein Taschentuch. Signora Flora setzte Sirias Familie in Kenntnis, doch sie erhielt keine Antwort. Vielleicht kam der Brief auch nie an.
     
    Eine weitere Liebesgeschichte nahm ihren Anfang in der Pension Eva, die nämlich von Giugiù Firruzza und Lulla. Giugiù war ein anständiger, fleißiger Mann und stammte aus einer guten Familie. Er besuchte die medizinische Fakultät in Palermo im dritten Jahr. Sein Vater, Don Antonio, der über die entsprechenden Beziehungen verfügte, hatte dafür gesorgt, dass Giugiù nicht zum Militärdienst eingezogen wurde: Ein befreundeter Arzt stellte bei Giugiù einen schweren Herzfehler fest. In Wirklichkeit war Giugiùs Herz, wenigstens bis er Lulla kennenlernte, kerngesund. Man hatte ihn mit einer entfernten Cousine verlobt, einem pummeligen Mädchen, das eine Brille trug und jeden Tag zur Kirche ging. Und er, der brave Sohn, hatte dem Willen seiner Eltern gehorcht. Zwei Jahre nach der Verlobung hatte Ninetta ihm erlaubt, sie zu küssen, aber nicht auf den Mund. Und danach war sie sofort in die Kirche gelaufen, um zu beichten. Es war das erste und letzte Mal, dass sein Mund das Mädchen berührte. Daher war es sozusagen der Wille der Natur, als Giugiù Firruzza, der sich so lange zurückgehalten hatte, an einem Abend Mitte April beschloss, der Pension Eva einen Besuch abzustatten. Und so begegnete er Lulla. Dabei hatte er sie nicht ausgesucht, weil sie ihm am besten von allen gefiel, sondern allein deshalb, weil alle anderen bereits mit Kunden beschäftigt
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