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Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Autoren: Alison Croggon
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Enkir nicht mehr dort war; die grauenhafte Gegenwart war verschwunden. Hatten sie ihn getötet? Sie vermochte es nicht zu sagen. Der Schlag, den Enkir gegen sie richten wollte, hatte das Geschehen in ein völliges Chaos gestürzt. Tumult war zu vernehmen, und die Soldaten schienen immer noch gegeneinander zu kämpfen. Bisher hatte noch niemand das winzige Boot bemerkt, das sich klammheimlich aus dem Hafen stahl.
    Cadvan kam zu ihr und trat neben sie.
    »Schade um Norloch!«, meinte er.
    »Ja«, pflichtete Maerad ihm bei. Sie umklammerte die Reling, um ihr Zittern zu unterbinden, das von den Nachwehen des Gefechts herrührte. Cadvan spähte über das Wasser zurück.
    »Ich bin froh, dass wir nach Thorold reisen«, sagte er. »Es war schon immer eines der unabhängigsten Königreiche, vermutlich, weil es eine Insel ist. Falls der Oberste Zirkel einen Haftbefehl gegen uns erlässt, wird man ihm dort wahrscheinlich keine Beachtung schenken.«
    »Einen Haftbefehl?« Mit großen Augen drehte Maerad sich Cadvan zu. Der Barde zuckte mit den Schultern.
    »Damit ist zu rechnen, Maerad. Es wurde Blut vergossen. Und sofern der Oberste Zirkel nicht unter Nelac neu aufgestellt wird, wofür die Aussichten eher schlecht stehen, sind wir ab sofort Geächtete. Wir haben uns heute Nacht ein paar mächtige Feinde geschaffen.«
    Bedrückt senkte Maerad den Kopf. Eine Weile überlegte sie, ob sie die Kraft besaß, sowohl vor dem Licht als auch vor der Finsternis zu flüchten. Sie hatte gedacht, Norloch würde das Ende ihrer Reise bedeuten, dabei bezeichnete der Ort offenbar nur den Beginn einer neuen Flucht, diesmal ins Unbekannte; ihr Schicksal war ungewisser als je zuvor.
    »Ich bedauere Gasts Tod«, sagte Cadvan nach einer Pause. »Er war kein böser Mann, nur fehlgeleitet. Er tat, was er für richtig hielt.«
    Er wollte dich töten, dachte Maerad, sprach es jedoch nicht laut aus. »Hast du ihn gut gekannt?«, erkundigte sie sich stattdessen und drehte sich Cadvan zu. Seine Augen wirkten düster vor Traurigkeit. »Nein, nicht besonders«, antwortete er. »Er kam aus der Schule von Desor.« Eine Weile schwieg er. »Ein Bürgerkrieg ist etwas Hässliches, Maerad. Er stachelt Freunde gegen Freunde auf und verwandelt Menschen in Feinde, die eigentlich Verbündete sein sollten. Ich hatte gehofft, so etwas nie miterleben zu müssen. Aber so sind nun mal diese Zeiten.«
    Gemeinsam blickten sie übers Wasser und lauschten dem Kampfgeschrei, das allmählich in der Ferne zurückblieb.
    »Denkst du, Enkir ist tot?«, fragte Maerad unverhofft.
    »Das würde ich nur allzu gern glauben«, erwiderte Cadvan. »Aber ich verspürte keine Gewissheit, was vermutlich bedeutet, dass er noch lebt. Er bezieht seine Kraft aus einer Quelle, die übermenschlich ist und ihn beschützt haben dürfte. Und wenn Enkir noch am Leben ist, fürchte ich um Norloch. Er ist immer noch Oberster Barde, der mächtigste Barde von ganz Annar, und wenn er noch lebt, wird er die Wirren der heutigen Nacht zu seinen Gunsten nutzen.«
    »Aber vielleicht könnte Nelac ihn aufhalten.«
    »Vielleicht«, meinte Cadvan. »Aber wie er sagte, wie tief reicht die Finsternis? Wenn die Menschen sich fürchten, geben sie fast alles für ein Trugbild von Sicherheit auf. Nur Nelac weiß, wie unaussprechlich Enkir das Licht verraten hat, und Enkir hat ihn umgekehrt bereits des Verrats bezichtigt. Nelac half uns bei der Flucht, und ich habe mindestens einen Barden getötet. Man muss kein böser Mensch sein, um sich angesichts dieser Umstände in die Irre leiten zu lassen.« Cadvans Stimme erklang tonlos. »Die Beweislast dürfte gegen alles sprechen, was Nelac sagen könnte.« »Aber vermag der Rat nicht zu erkennen, wie die Wahrheit aussieht?«, fragte Maerad mit plötzlicher Leidenschaft. »Es sind doch alles Barden, oder? Müssten sie den Verrat nicht durchschauen?«
    Cadvan bedachte sie mit einem matten Lächeln. »Die Wahrheit ist nicht so einfach, Maerad. Das weißt du. Es kommt ganz darauf an, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet, und sie verändert sich … Denkst du, es sei so einfach, die Wege des Lichts nachzuvollziehen? Wie soll irgendjemand von uns wissen, wie wir die richtige Entscheidung treffen können?«
    Maerad dachte an Norloch, die Hohestätte der Barden, die nunmehr als Zentrum der Finsternis entblößt war, dann an Cadvans Geständnis von jenem Abend, und sie verstummte. Eine plötzliche Unruhe erfüllte sie. Sie hatte gedacht, Finsternis und Licht wären so einfach
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