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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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Sein , wie der Kapitalismus des 18. Jahrhunderts den Weg ebnete für einen radikalen Hedonismus und Egoismus als Leitprinzipien ökonomischen Verhaltens. Die Maxime lautete Wachstum. Der Mensch verstand, dass er dafür das wirtschaftliche Verhalten von der Ethik und traditionellen Werten abspalten musste. »Der Wirtschaftsmechanismus wurde als autonomes Ganzes angesehen, das unabhängig von den menschlichen Bedürfnissen und vom menschlichen Willen ist – ein System, das sich aus eigener Kraft und nach eigenen Gesetzen in Gang hält. Die Entwicklung dieses Wirtschaftssystems wurde nicht mehr durch die Frage: Was ist gut für den Menschen? bestimmt, sondern: Was ist gut für das Wachstum des Systems?«
    Die Prinzipien der Ökonomisierung gelten schon lange nicht mehr allein in der Wirtschaft. Die McKinsey-Philosophie hat unser Leben im Griff. Wir betrachten es als ein Wirtschaftsunternehmen, das laufend optimiert werden will. Dafür haben wir das Wort Lebensentwurf gefunden. Im Duden steht: »Le/bens/ent/wurf, der: Planung des (individuellen) Lebensablaufs (…).« Es ist verführerisch, dem Irrtum zu erliegen, Herr seiner Biographie zu sein.
    Eine Architektin erzählte einmal von einem jungen Kollegen, der ein Haus entworfen hatte, in dessen Küche man vor lauter Flexibilität die Orientierung verlor. Nichts hatte einen festen Platz, Herd und Kühlschrank waren mitlangen Kabeln und Rollen versehen und ließen sich umherschieben. Die Architektin fand das absurd. Im ersten Moment ist es das auch, denn wer möchte sich schon nachts im Dunkeln durch die eigene Küche tasten, weil er nicht weiß, wohin er den Kühlschrank gestellt hat? Man kann die flexible Küche aber auch als Anspielung auf unsere Haltung dem Leben gegenüber begreifen, das wir wie dieser Architekt entwerfen. Wir richten es ein, bauen alles um und aus und ziehen weiter. »Aber große Leistungen entstehen nicht, wenn Menschen in allen Belangen flexibel sind, sondern wenn sie an etwas festhalten«, sagt Hartmut Rosa. Der Soziologe und Autor des Buchs Beschleunigung glaubt, dass die »Entschleunigung« die mächtigste Gegenutopie des 21. Jahrhunderts werden könnte, wobei er nicht an erschöpfte Arbeitnehmer und -geber denkt, die ein Wellness-Wochenende in den Bergen buchen. Rosa meint ein politisches, auf Entschleunigung zielendes Programm.
    Glücklicher hat uns die Beschleunigung nicht gemacht. Die Zivilisation hat sich gegen uns gekehrt, die Errungenschaften sind uns über den Kopf gewachsen. Das ist keine neue Erfahrung, sie begleitet den Menschen seit jeher und jedes Mal wirft sie ihn auf sich selbst zurück. Von Zeit zu Zeit tönt es dann von allen Seiten, wir müssten »innehalten« und eine Gesellschaft der Selbstbeschränkung werden. Theologisch formuliert fehlt es an Demut. Die Forderung nach einem Mentalitätswandel ist zur Routine geworden – geändert hat sich freilich nichts. Dass wir am Ende, egal, wie wir es drehen und wenden mögen, Ausgesetztesind, beweisen uns regelmäßig Natur- und Technikkatastrophen: Tsunamis, Erdbeben, Hurrikans, Computersysteme, die keiner mehr versteht, Atomkraftwerke, die ein Eigenleben führen. Was wir für unmöglich gehalten haben, ist plötzlich Realität geworden. Trotz allem weigern wir uns beharrlich, unser Verhältnis zur Welt in Frage zu stellen. Dann müssten wir erkennen, dass wir es mit der Technisierung, Optimierung, Wahrscheinlichkeitsberechnung und Unverbindlichkeit zu weit getrieben haben.
    Die Sinnstrukturen, die in früheren Gesellschaften stark durch Religion, Normen und Veränderungsutopien geprägt waren, haben ihre Konturen eingebüßt. Wir sind Augenzeugen eines gesellschaftlichen Wandels »innerhalb der Moderne, in dessen Verlauf die Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen – freigesetzt werden, ähnlich wie sie im Laufe der Reformation aus der weltlichen Herrschaft der Kirche in die Gesellschaft ›entlassen‹ wurden«, schreibt Ulrich Beck in seinem Buch Risikogesellschaft . Darüber ist uns die Kontrolle unserer Freiheit entglitten. Die Freiheit hat sich in Zwang verkehrt. Der Glaube, jede Phantasie sei realisierbar, versetzt uns in einen permanenten Unruhe-, in einen Sehnsuchtszustand. Ständig quält uns die Frage: Wartet nicht ein besseres Leben auf mich? Steht mir nicht ein besseres zu? Warum bin ich aus meinem noch nicht ausgebrochen? Wir bewegen uns im Sinne Virilios in einer
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