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Die Patchwork-Luege

Titel: Die Patchwork-Luege
Autoren: Melanie Muehl
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Andreas Fröhlich mit dem Klassiker Der seltsame Wecker 2009 durch Deutschland tourten, strömten etwa 100 000 Mensch in die Hallen, um jene Stimmen zu hören, die einem für einen Augenblick das Gefühl der Jugend zurückgeben.
    In den neunziger Jahren lag das Durchschnittsalter der Videogamespieler bei achtzehn, heute liegt es bei Ende zwanzig. Es kommt uns nicht komisch vor, dass sich unsere Interessen mit denen jener decken, die unsere Kinder sein könnten, hätten wir welche. Wer welche hat, dem kommt es sowieso nicht komisch vor.
    Joseph Epstein schrieb einen wütenden Artikel, der uns daran erinnert, dass das Leben einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss haben muss, wie im klassischen Drama. Unsere sozialen Dramen haben zunehmend mehr Akte, wodurch sich die Peripetie verschiebt. Die Jugend ist nicht mehr nur ein kurzer Abschnitt irgendwo dazwischen, wir dehnen sie ins Endlose, versuchen sie zu konservieren, weil die Jugend die Zeit des größten Lustgefühls ist. Wir tun so, als wäre die Uhr stehen und wir jung geblieben: der Versuch, sich an einem Lebensgefühl festzuklammern, das uns wie ein einziges aufregendes Versprechen vorkommt.
    Unser Lebensumfeld erschwert das Altern, keine Frage. Unsere Eltern werden älter und älter und joggen auch mit siebzig im Park, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Nicht jeder der Golden Ager (auch Master Consumer genannt) ist automatisch begeistert von der Vorstellung, in der Großmutter- oder Großvaterrolle aufzugehen und deswegen auf die Karibikkreuzfahrt zu verzichten.
    Das Festhalten an der Jugend fällt einem in manchen Städten schwerer, in manchen leichter. In Berlin fällt es einem sehr leicht. Berlin ist eine arme Stadt, man kann dort günstig leben und sich als Teil der Avantgarde begreifen, wenn man mit seinem Notebook im Café sitzt. Es reicht zu sagen: »Ich mache was in den Medien.« Die Unfertigkeit der Stadt entspricht der Unfertigkeit vieler Bewohner, das macht sie so anziehend für Menschen, die sich selbst finden wollen – oder eben gerade nicht. Berlin ähnelt einer überdimensionierten Baustelle, überall klaffen Wunden, liegen Flächen brach, und eigentlich kommt einem das schon ganz normal vor. Was man aufbaut, lässt sich auch wieder abreißen. Dieser provisorische Dauerzustand erleichtert das Verharren in der eigenen Unreife. Der Mensch, schrieb Konrad Lorenz, werde auf diesem Wege zu einem »Parasiten der Gesellschaft«, sein Verantwortungsbewusstsein und Werteempfinden schwinde. Das Leben als etwas Transitorisches zu empfinden, ist nicht neu, auch der Mensch im Mittelalter kannte dieses Lebensgefühl, er wusste jedoch, dass ein Danach existiert. Das konnte die Hölle sein oder der Himmel.
    Berlin ist freilich mehr als die Summe seiner Klischees. Berlin, das macht die Stadt außergewöhnlich, ist zugleich immer auch das Gegenteil. Viele, gerade junge Menschen zelebrieren hier den Rückzug ins Private und kultivieren die Abschottung, als wollten sie die Zeit des Biedermeier heraufbeschwören, während sie allerdings voller Sehnsucht gleichzeitig zu den Generation-Golf-Anhängern hinüberschielen, die sich nach wie vor über gemeinsame Konsumerfahrungen und Marken definieren.
    Unbegrenzter Konsum, absolute Freiheit, bedingungsloses Glück: Diese Trias bildete den Kern unserer Fortschrittsreligion. Wir trieben das Wachstumsdiktat unermüdlich voran, wurden leichtsinniger und gieriger, wir begannen zu spielen. 2008 war die Spitze erreicht: die Finanzkrise. »In Anbetracht unserer finanziellen Fähigkeiten haben wir uns zu lange eingeredet, wir hätten die Kontrolle über unser Schicksal. Wir haben den Mathematikgenies vertraut, die uns ein ›Risikomanagement‹ versprachen, und den Derivaten, die so komplex waren, dass wir nicht wagten, in sie hineinzuschauen«, schrieb Alain de Botton. Wir müssten unseren Sinn wieder für das erweitern, was zu jedem beliebigen Zeitpunkt in unserem Leben schiefgehen könne. »Was ist der Mensch? Ein Gefäß, das die leichteste Erschütterung, der leichteste Stoß zerbrechen kann.«
    Die Finanzkrise hätte die Überzeugung, dass sich unser Leben durchplanen, kalkulieren und versichern lässt, dass ewig alles so weiterläuft, ad absurdum führen müssen. Der Spaß wäre damit vorbei gewesen.
    Es gab einmal eine Zeit, als das ökonomische Verhalten als Teil des menschlichen Verhaltens den Wertevorstellungen der humanistischen Ethik verpflichtet war. Erich Fromm beschreibt in seinem Klassiker Haben oder
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