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Die Papiermacherin

Titel: Die Papiermacherin
Autoren: Conny Walden
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und er galt als einer der besten Papiermacher weit und breit. Kaum jemand verstand diese Kunst so wie er, kannte das Geheimnis, wie heftig die Stoffe zu Brei zerstampft werden mussten, bevor aus ihnen der Stoff des Geistes und der Schrift werden konnte – Papier! Das Schöpfsieb zu handhaben erforderte viel Übung und Geschick, und selbst wenn die Blätter dann gepresst wurden, konnte man beim Lösen der Drehpresse noch alles verderben.
    Wang nahm eines der fertig getrockneten Blätter empor und hielt es gegen das durchs offene Fenster hereinscheinende Sonnenlicht. Schließlich nickte der Meister, und sein bis dahin sehr streng wirkendes Gesicht entspannte sich etwas.
    Wang drehte den Kopf und sah seine Tochter an.
    »Du bist eine gelehrige Schülerin gewesen«, sagte er. »Ich kann dir nichts mehr beibringen. Alles, was du jetzt noch zu lernen hast, wird die Erfahrung der Jahre bringen.«
    »Ich danke dir für deine Worte«, sagte Li – unendlich erleichtert darüber, dass die Blätter, die sie angefertigt hatte, dem strengen Blick von Meister Wang standhielten. Ein verhaltenes Lächeln spielte um ihre Lippen. Das Gesicht ihres Vaters aber blieb ernst. Der Blick wirkte in sich gekehrt. Nachdem Lis Mutter vor Jahren der Seuche anheimgefallen war, die Seidenhändler aus Xingqing in die Gegend brachten, hatte Li ihren Vater nie wieder wirklich unbeschwert erlebt. Fast die Hälfte der Bevölkerung in der kleinen Stadt am äußersten westlichen Rand des Reichs Xi Xia hatte das Fieber hinweggerafft. Darunter auch zwei von Lis insgesamt drei Brüdern. Der dritte Bruder war dann bei dem Überfall einer uigurischen Räuberbande ums Leben gekommen.
    Gold und Seide flossen seit langer Zeit die Seidenstraße entlang. Neuerdings war vor allem der Handel mit Pferden hinzugekommen, denn das Reich des im fernen Bian regierenden Kaisers wurde andauernd von Aufständen bedroht. Dementsprechend groß war dort der Bedarf der widerstreitenden Mächte an Reittieren. Doch nach Pferden, Gold und Seide gierten viele.
    Der Handel an der Seidenstraße hatte auch dem Papiermacher Wang und seiner Familie Wohlstand gebracht. Wo Verträge geschlossen, Warenlisten aufgeschrieben und Wechsel ausgestellt wurden, brauchte man diesen besonderen Stoff fast so dringend wie die Handelsware selbst. Papier trug die Verse der Weisen aus Tibet, die Suren des Korans oder die Heilige Schrift der Nestorianer, die den Glauben an Jesus Christus bis an die Grenzen des Reichs der Mitte gebracht hatten, genauso wie Zahlen und Liefertermine. Überall waren daher die Künste der Papiermacher nicht minder gefragt als jene von Schreibern und Übersetzern.
    »Die Kunst, die ich dich gelehrt habe, ist mehr wert als ein Klumpen Gold oder ein großer Besitz«, sagte Wang an seine Tochter gewandt. »Besitz kann man dir nehmen, dein Wissen aber nicht. Die Zeiten sind unsicher und der Reichtum zieht die Räuber an wie das Licht die Motten. Aber niemand kann dir deine Fertigkeit in der Kunst des Papiermachens nehmen, die ich in deine Seele gepflanzt habe, so wie es mein Vater bei mir getan hat. Denk immer daran: Wissen und Können sind nicht nur dein wertvollster Besitz, sondern wohl auch der einzige, den du mit Sicherheit behalten wirst, bis deine Seele zu den Ahnen geht.«
    »Ich werde dieses Wissen immer in Ehren halten«, versprach Li.
    »Du weißt, dass ich aus Erfahrung spreche«, fuhr Wang fort. Der Respekt gegenüber ihrem Vater verbot es Li, darauf hinzuweisen, dass sie diese Geschichte schon dutzendfach zu hören bekommen und ihre Lektion gewiss längst daraus gelernt hatte. »Du warst noch ein Säugling, als wir die Hauptstadt verlassen mussten«, fuhr Wang fort. »Aber es kommt mir manchmal vor, als sei es erst gestern gewesen … Eine gutgehende Papierherstellung gehörte mir und ich ließ zwanzig Gesellen für mich arbeiten!« Wenn Wang von der Hauptstadt sprach, dann meinte er keineswegs die Hauptstadt von Xi Xia, sondern das ferne Bian, wo die Söhne des Himmels das Reich der Mitte regierten. »Der Kaiserhof und die Verwaltung hatten einen so hohen Bedarf an frischem Papier, dass man sich das hier, am Rand der zivilisierten Welt, gar nicht vorzustellen vermag«, erklärte Wang. »Und es gab so viele abgelegte Seidengewänder, die man verwenden konnte – hier dagegen müssen wir ja oft genug alle möglichen Lumpen zerstampfen, und wie du weißt, mengen einige meiner weniger ehrenhaften Konkurrenten sogar getrocknetes Gesträuch, Holzspäne und Stroh in den
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