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Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)

Titel: Die Ordnung der Sterne über Como: Roman (German Edition)
Autoren: Monika Zeiner
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gewartet, vielleicht stundenlang, dass Marc käme, vielleicht sei er sogar eingeschlafen, er wisse es nicht, er glaube schon. Die Sonne habe geschienen, kurz oder lang. Er wisse es nicht. Er habe sich gewärmt auf der Bank vor der Zugstation Morteratsch und auf Marc gewartet, aber Marc sei nicht gekommen, aber Marc hatte den Autoschlüssel. Und da habe er auf ihn gewartet, bis es dunkel gewesen sei. Wäre er zwei Stunden eher losgegangen, sagte er, auf die Lichter des Vesuvs blickend, und wunderte sich, dass es so einfach war, es zu erzählen, es auszusprechen nach all den Jahren,dann hätten sie vielleicht noch fliegen können, aber er habe nur dagesessen und gewartet.
    Sie schwiegen. Das von ihm Gesagte erschien Tom schon sehr weit weg, als Betty sprach: »Im Schnee stirbt man schnell, wenn man sterben will.« Auch ihre Stimme klang wie von fern. Sie saß zwar neben ihm auf der Bank, war aber eigentlich längst fortgegangen, in die Tiefe der Zeit zurück.
    »Lass uns gehen«, sagte sie und stand auf. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, sie berühren, ihre Anwesenheit überprüfen, aber er ließ es sein. »Warst du mal in Rom?«, fragte er stattdessen.
    Sie nickte.
    »Am Flughafen?«, sagte er.
    Nein, sagte sie, sie sei immer mit dem Zug nach Rom gefahren, warum er das wissen wolle. Aber er antwortete nicht, sah nur wie geistesabwesend auf einen Punkt auf ihrer Wange, den er auch dann noch zu betrachten schien, als ihre Wange gar nicht mehr da und Betty schon aufgestanden war. »Lass uns gehen«, sagte sie noch einmal.
    Es war nicht weit. Sie überquerten den Platz, bogen in die Via Mergellina, und da nahm sie seine Hand. Ohne ein Wort liefen sie am Lungomare entlang, passierten die hell erleuchtete Drehtür, Hand in Hand.
    »Schlaf mit mir«, sagte sie oben im Zimmer.
    Durchs Fenster fiel nur etwas Licht. Eine vom Meer her kommende Dunkelheit erfüllte den Raum, bedeckte ihre Körper. Der Straßenverkehr war kaum zu hören. Sie wunderte sich, dass er so schnell eingeschlafen war. Vorsichtig löste sie ihre Hand aus der seinen, stand auf und ging ins Badezimmer. Sie machteLicht und ließ die Tür einen Spaltbreit offen, damit sie ihre Kleider fände. Sie sah den Brief. Der Schein des Badezimmerstrahlers lag darauf. Sie zog sich an. Slip, Unterhemd, Hose, Bluse, fertig. Im Vorübergehen betrachtete sie mit schrägem Kopf den Umschlag auf den Fußbodenkacheln. Sie blieb stehen und beugte sich hinab. Ein altes Sparkassenkuvert, auf dem mit lockerer, nach rechts sich neigender Schrift die Worte »Für Hedda« geschrieben standen. Wie sie diese Schrift kannte, noch immer erkannte, die nachlässige, etwas ungelenke Schrift eines Schülers. Sie betrachtete das Kuvert. Es war zerknittert, einmal zusammengefaltet, durch das matte Sichtfenster hindurch erschienen die Buchstaben. »Du wunderst dich«, entzifferte sie und »wegwerfen«. Sie zögerte einen Moment, strich dann mit beiden Händen ihr Haar hinter die Ohren und verließ das Badezimmer. Sie stellte sich ans Fenster und sah auf die immense Dunkelheit draußen über dem Meer.
    Sie atmete. Ein und aus. Das ganze Leben lang. Sie schloss die Augen. Für Hedda, hatte er geschrieben, dachte sie. Die Dunkelheit des Meeres war unter ihren Lidern. Sie überlegte, ebenfalls einen Brief zu hinterlassen. »Für Tom. Bis morgen früh am Hafen.«

TIRRENIA
    Als er am Morgen am Molo Beverello saß, wo der alltägliche Betrieb an Dichte gewann, Touristen mit riesigen Rollkoffern, gepäcklose Geschäftsreisende, Arbeiter, und vor ihm die Schlangen der Wartenden an den Billetthäuschen der verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften, SNAV, Caremar, Tirrenia, klangvolle Namen, die er sich in Gedanken vorsagte, Namen, die von Ferneund Sonnencreme und von Abenteuern sprachen, Stromboli, Palermo, Tunis, Panarea, Ziele, die in der Vorstellung schöner sein mochten als in der Wirklichkeit, da war ihm keineswegs bewusst, dass er sich nicht bei seinen Kollegen abgemeldet und dass er darüber hinaus sein Handy im Hotelzimmer vergessen hatte. Er dachte an die Kollegen wie an etwas sehr Kleines und Entferntes, etwas, das hinter der Scheibe eines davoneilenden Zuges immer undeutlicher wird, er dachte an sie gewissermaßen aus dem Augenwinkel seines Denkens heraus.
    Er las »Tirrenia«, und er überlegte, wie kurz oder wie lang zehn Jahre sein können. Wenn er auf sein Leben zurückblickte, wie man von einem Gebirgsgipfel den zurückgelegten, angesichts der Höhe einerseits unbedeutenden,
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