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Die Orangen des Präsidenten

Die Orangen des Präsidenten

Titel: Die Orangen des Präsidenten
Autoren: Abbas Khider
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unserem Viertel entfernt. Als wir am letzten Prüfungstag ankamen, ließen uns die Lehrer nicht hinein. Normalerweise begann die Prüfung um acht Uhr morgens. Bis neun Uhr warteten wir draußen vor dem Hauptportal. Ein Lehrer erklärte schließlich, die Unterlagen aus der Prüfungszentrale seien nicht angekommen, und die Klausur werde deswegen erst um dreizehn Uhr stattfinden.
    Genervt kehrte ich nach Hause zurück. Vor der Haustür stieß ich auf jemanden, der wutentbrannt brüllte: »Sami! Krüppelbein! Du Arschloch! Ich bring dich um!« Einige Nachbarn bemühten sich, ihn zu beruhigen. Doch der Mann hörte nicht auf, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Ich kannte ihn. Er war ein Taubenzüchter wie Sami, sein Name war Karim.
    Zuerst konnte ich Sami nirgends entdecken. Er war auf dem Dach, saß auf dem Boden vor dem Taubenschlag und fütterte die Vögel. Er schien das Brüllen draußen überhaupt nicht zu hören, war ganz in sich versunken. Erst als ich direktvor ihm stand, blickte er überrascht zu mir auf und erkundigte sich sofort nach der Prüfung. Ich erzählte kurz, was geschehen war, und fragte besorgt: »Was ist denn da draußen los? Warum will dieser Verrückte dich umbringen?«
    »Karim gleicht einer Trommel, außen laut und innen hohl. Nimm ihn nicht so ernst! Er ist nur ein kaputter Schwanz.«
    Ich schaute Sami stumm an und wartete auf eine Erklärung.
    »Der Idiot hat früher einmal eine Taube von mir gefangen und wollte sie nicht zurückgeben. Heute Morgen, kurz nachdem du weg warst, habe ich meine Tauben fliegen lassen. Plötzlich kam eine fremde Taube und mischte sich unter meinen Schwarm. Ich ließ alle auf dem Dach landen und sperrte sie mit ein. Ich wusste nicht, dass sie eine seiner Tauben war. Nun will er, dass ich sie ihm zurückgebe. Das werde ich aber bestimmt nicht tun. Auge um Auge. Und verkaufen werde ich sie auch nicht, nicht für tausend Dinar. Es ist eine grüne Taube, und die sind selten.«
    Ich betrachtete sie aufmerksam. Die Farbe ihrer Federn war gelb, grau und braun gemischt, mit einem leuchtenden, wie gemalten weißen Punkt auf dem Kopf. Ein makelloser Schnabel. Ihr Jabot sah aus wie eine offene Rose. Strahlend weiß das Daunengefieder. Ihre kleinen Augen glichen zwei Granatapfelkernen, sie starrten ängstlich in die Gegend.
    »Aber sie ist doch gar nicht grün«, wunderte ich mich.
    »Du musst sie dir in der Sonne anschauen.«
    Tatsächlich, ihre unterschiedlichen Farben, die zwischen gelb, grau, braun und weiß wechselten, verwandelten sich im Licht der Sonne in ein helles, fast schimmerndes Grün.
    »Sie ist unwahrscheinlich schön.«
    Sami gebärdete sich wirklich wie ein Kind, das sich auf ein neues Spiel freut. Obwohl ich gern die grüne Taube noch näher betrachtet hätte, wandte ich mich von ihr und Sami ab und ging ins Wohnzimmer, um noch einmal kurz den Prüfungsstoff für den Nachmittag durchzugehen.
    Die Prüfung war um fünfzehn Uhr zu Ende. Ich war wirklich sehr erleichtert und wartete draußen auf Ali. Der verließ als einer der letzten die Prüfungsräume.
    »War’s schwer?«, fragte ich.
    »Denk jetzt nicht daran! Nun müssen wir feiern. Die Freiheit und die Ferien. Oder die Universität, wenn wir bestanden haben.«
    »Wohin fahren wir?«
    »Nach Zikkurat Ur. Warte hier!«
    Er ging zum Schulparkplatz, stieg in ein Auto und hielt dann direkt neben mir. »Steig ein!«, schmunzelte er gönnerhaft.
    »Woher hast du das?«
    »Von einem Freund ausgeliehen, um heute feiern zu können.«
    Es war ein kleiner roter Mitsubishi. Ich stieg ein, und Ali brauste sofort los. Ich schaltete den Rekorder ein und ließ die Musik laut spielen, bis wir direkt vor den Überresten der alten Stadt Ur hielten.
    Ein paar Besucher schlenderten in Richtung der Ruinen. Vor der Zikkurat-Treppe standen zwei Männer, die uns zuwinkten. Ali sagte, die beiden seien seine Freunde. Wir stiegen aus. Die zwei Männer kamen auf uns zu und begrüßten uns mit Handschlag. Plötzlich hörte ich laute Schreie: »Keine Bewegung!«

Erstes Kapitel
Untersuchungshaft
1989
    Ein Haufen uniformierter, bewaffneter Männer und ein paar in Zivil Gekleidete kreisten Ali, seine beiden Freunde und mich ein, richteten ihre Waffen auf uns und brüllten: »Polizei!« Einer der Zivilen stand direkt vor mir und schlug mir völlig unerwartet mit seiner Pistole auf den Kopf, sodass sich die Erde wie ein Karussell um mich herum drehte. Ich schwankte. Der Mann umklammerte meinen Oberkörper, drückte mich nieder und
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