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Die Opferung

Die Opferung

Titel: Die Opferung
Autoren: Graham Masterton
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gesagt.«
    »Aber es gibt keine Erwachsenen, die in dieser Zeit gestorben sind. Nicht einen einzigen. Wenn alle diese Kinder an einer Krankheit gestorben wären, dann hätte es zumindest auch einen Erwachsenen treffen müssen.«
    »Vielleicht ein Feuer«, sagte Danny. »Bei Lawrence hat es auf einer Geburtstagsparty auch mal gebrannt. Seine Mama hat den Kuchen reingebracht und dabei die Vorhänge in Brand gesteckt. Das wären auch alles Kinder gewesen.«
    »Das könnte sein. Aber wenn es wirklich ein Feuer oder irgendeine andere Katastrophe war , dann hätte es doch wenigstens auf einigen Grabsteinen stehen müssen.«
    »Wenn ich vom Bus überfahren werde, möchte ich aber nicht, dass das auf meinem Grabstein steht. >Hier liegt Danny, vom Bus platt gemacht<.«
    »Das ist was anderes.«
    »Ist es nicht.«
    »Na gut, dann ist es nichts anderes. Komm, wir sehen uns mal die Kapelle von innen an.«
    »Ich dachte, das ist eine Kirche.«
    »Ist es auch. So eine Art jedenfalls. Eine Kapelle ist eine kleine Kirche.«
    Die von Wind und Wetter ausgeblichenen Türen zur Kapelle waren aus ihren verrosteten Scharnieren gefallen und hatten sich verkantet. Ich drückte meine Schulter gegen den rechten Türflügel und konnte ihn mit etwas Mühe so weit bewegen, dass Danny und ich uns hindurchzwängen konnten.
    »Pass auf, dass du nicht mit deinem T-Shirt an dem Nagel da hängen bleibst.«
    Es gab kein Dach mehr, seine Überreste lagen auf dem Boden verstreut, Hunderte von zerbrochenen Dachziegeln, die von Gras, Huflattich und Disteln überwuchert wurden. Die Mauern waren noch immer gekalkt, wiesen aber schwarze Flecken auf, die von der Feuchtigkeit herrührten.
    Efeu hatte den größten Teil der westlichen Mauer erobert. Wir gingen weiter, und die Dachziegel zerbrachen unter unseren Füßen. Erst als wir den hohen Sandsteinaltar erreicht hatten, sahen wir uns in Ruhe um. Die Kapelle wirkte nicht mehr besonders heilig, nur verfallen. Vögel waren die einzige Kirchengemeinde, und das Stöhnen der Zeder war der einzige Psalm, der zu hören war.
    »Hier ist es unheimlich«, fand Danny.
    »Das kommt dir nur so vor, weil alles verlassen ist.«
    Wir bahnten uns unseren Weg zurück zum Eingang, als Danny plötzlich sagte: »Sieh mal da. Fußabdrücke.«
    »Fußabdrücke? Wovon redest du?«
    »Sieh doch, hier.«
    Er ging hinüber zur westlichen Mauer und zeigte auf den Boden, dicht unter dem überhängenden Efeu. Tatsächlich war dort ein Paar nackter Füße aufgemalt worden.«
    »Das ist ein Wandgemälde«, erklärte ich ihm. »Vermutlich eine Station auf dem Kreuzweg.«
    »Was ist das?«
    »Ich werd's dir zeigen.« Ich nahm den Efeu in beide Hände und schob ihn Stück für Stück zur Seite. Er gab ein Geräusch wie zerreißendes Leinen von sich und klammerte sich so hartnäckig am Mauerwerk fest, als besäße er Finger, mit denen er Halt fand. Schließlich legte ich aber das Wandgemälde schrittweise frei, zuerst ein paar in Weiß gekleidete Beine, dann eine Hand, eine Schärpe und noch eine Hand.
    »Da«, sagte ich zu Danny. »Sieht aus wie Jesus.« Doch dann zog ich einen letzten Wust raschelnden Efeus zur Seite und legte das Bild einer Frau mit wallendem rötlichen Haar, einem roten Stirnband und einem außergewöhnlichen, ergreifenden Gesichtsausdruck frei. Ein Großteil der Farbe war vom Wetter und dem austrocknenden Effekt des Efeus ausgeblichen, doch die Frau war noch immer beeindruckend, und das Gemälde war so lebensecht, dass ich fast das Gefühl hatte, die Frau spreche zu uns.
    Was mich störte, war nicht die realistische Darstellungsweise der Frau, sondern das, was um ihren Hals lag. Das Gemälde war so blass geworden, dass ich es zuerst für eine dunkle Pelzstola hielt. Aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um eine große Ratte handelte - oder um etwas, das einer Ratte sehr ähnlich sah. Das Tier hatte ein weißes längliches Gesicht und schräg stehende Augen, aber der Gesichtsausdruck wirkte eher wie der eines Menschen als der eines Tieres. Spöttisch, berechnend und verschlagen.
    »Das ist nicht Jesus«, sagte Danny nachdrücklich.
    »Nein.«
    »Und wer ist es dann?«
    »Ich weiß nicht, ich habe keine Ahnung.«
    »Was ist das da auf den Schultern? Dieses hässliche Ding?«
    »Vermutlich eine Ratte.«
    »Das ist hässlich.«
    »Du hast Recht. Komm, wir verdecken es wieder.«
    Ich versuchte, den Efeu wieder vor das Gemälde zu ziehen, aber nachdem ich ihn einmal von der Wand gezerrt hatte, weigerte er sich,
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