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Die Netzhaut

Die Netzhaut

Titel: Die Netzhaut
Autoren: Torkil Damhaug
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Büfett. Jo sieht sie nicht an, ist aber sicher, dass sie ihn anschaut. Jakka hat ihm geraten, nicht allzu viel Interesse zu zeigen – um plötzlich zuzuschlagen. Jo ist heilfroh, dass er allein mit Truls und Nini ist. Vielleicht hat ihn dieses Mädchen noch nie zusammen mit Mutter und Arne gesehen. Vielleicht muss sie überhaupt nicht von ihnen erfahren.
    Weniger als drei Minuten später kommt sie mit einem Tablett zurück. Sie hat gerade gebadet, denn der Bikini zeichnet sich feucht über ihrem Po ab. Durch den dünnen, gelben Rock hindurch sieht Jo, dass es der mit den Herzen ist, der gestern auf dem Balkon zum Trocknen hing. Ylva heißt sie. Ylva Richter. Ob er Jakka vertrauen kann? Warum sollte er ihm nicht vertrauen? Er ist nicht nur prominent, sondern auch unterhaltsam. Und aus irgendeinem Grund interessiert er sich dafür, was Jo gerade beschäftigt. Jo blickt sich um, ob Jakka in der Nähe ist. Doch Jakka ist nicht der Typ, der so früh schon auf den Beinen ist, denkt er. Eher der Typ, der die ganze Nacht aufbleibt, raucht und Gedichte über ertrunkene Phönizier liest.
    Bevor Jo mit dem Frühstück fertig ist, steht Ylva auf. Zwischen dem gelben Rock und dem noch kürzeren Oberteil sieht man ihren Bauch. Sie trägt einen Ring im Nabel. So was hat Jo noch nie gesehen. Er kann es nicht lassen, ihn anzustarren. Wenn sie geht, wippen ihre Brüste unter dem Oberteil. Er zwingt sich wegzuschauen. Mädchen mögen es nicht, so angeglotzt zu werden, würde Jakka vielleicht sagen.
    Während sie um die Ecke verschwindet, steht Jo auf. »Bleib hier mit Nini.«
    »Wo willst du hin?«
    »Aufs Klo. Ihr geht nirgendwohin, verstanden?«
    Truls kaut auf einem Würstchenstummel herum und scheint es überhaupt nicht eilig zu haben.
    »Bin in ein paar Minuten wieder da«, ruft Jo über die Schulter.
     
    Er beugt sich vor und wirft einen Blick auf den Nachbarbalkon. Die Tür ist geschlossen und die Gardine vorgezogen. Doch er zweifelt nicht einen Augenblick daran, dass sie dort drin ist. Im Schlafzimmer ist es still. Nicht mal Arnes Schnarchen ist zu hören. Vielleicht ist sein Herz stehengeblieben, und er liegt mit blau angelaufenem Gesicht im Bett, während ihm die schwarze Zunge aus dem Mund hängt. Oder er hat sich im Suff auf die Mutter gewälzt und sie erstickt, sodass sie beide nicht mehr am Leben sind. Dann wird er einfach mit Truls und Nina abhauen. Im Flugzeug neben Ylva sitzen.
Du kannst bei mir wohnen,
sagt sie.
Was ist mit Truls und Nini?,
fragt er.
Ich muss mich um sie kümmern. Sie haben doch nur mich.
Sie beugt sich zu ihm vor.
Meine Eltern können sie adoptieren. Sie werden es gut bei uns haben.
    Er tut es, ohne weiter darüber nachzudenken. Schleicht sich nach draußen, zur Tür der Nachbarn und klopft an. Keine Reaktion. Ging es nicht darum, sie endlich kennenzulernen? Er klopft noch einmal. Plötzlich schlurfende Schritte von innen.
    »Wer ist da?«
    Ylvas Stimme. Jetzt wird ihm etwas klar, das er bereits gestern am Pool bemerkt hat. Sie hat eine Aussprache wie die Leute in Südnorwegen oder in Bergen. Er hat Lust, ihren Namen auszusprechen, reißt sich aber zusammen.
    »Ich bin’s … ich wohne nebenan.«
    Sie öffnet die Tür. Sie trägt Unterhemd und Shorts. Um den Kopf hat sie ein Handtuch wie einen Turban geschlungen.
    »Hei«, sagt Jo.
    »Hei.«
    »Ich wohne nebenan«, wiederholt er.
    »Ah …«
    Sie spricht dieses Ah aus, als hätte sie ihn noch nie gesehen.
Ich wohne nebenan,
hätte er fast zum dritten Mal gesagt.
Darf ich reinkommen?
    Auf ihrem Sofa sitzen. Ihre Hand halten. Doch ihr Blick verheißt nichts dergleichen.
    »Könnt ihr mir einen Dosenöffner leihen?«, rettet er sich aus der Situation, erleichtert darüber, wie natürlich er klingt. Einen Dosenöffner kann jeder einmal brauchen. Völlig normal, sich so etwas von seinem Nachbarn auszuleihen.
    »Einen Dosenöffner?« Sie wirft einen Blick in die Küche. »Mal sehen, ob wir so was haben.«
    Sie schließt die Tür von innen. Bittet ihn nicht herein. Kein Wunder, er hat sie ja auch überrumpelt.
    Kurz darauf ist sie zurück und hält ihm einen Metallgegenstand hin. Flaschenöffner, Dosenöffner und ausklappbarer Korkenzieher in einem. Genau den gleichen hat er in ihrer Küchenschublade entdeckt, als sie ankamen, und nun liegt er auf dem Nachttisch seiner Mutter.
    Plötzlich fühlt er sich mutig. Sieht ihr lange in die Augen. Sie sind braun, mit ein paar schwarzen Einsprengseln.
    »Bin gleich wieder da«, sagt er und dreht sich
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