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Die netten Nachbarn

Die netten Nachbarn

Titel: Die netten Nachbarn
Autoren: Ephraim Kishon
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verantwortungslose Eltern ihr Kind für zwei Wochen allein ließen – und das arme Wurm trug eine Unzahl von Komplexen davon, die schließlich zu seinem völligen Versagen im Geografie unterricht führten. Ein kleines Mädchen in Natanja soll auf diese Art sogar zur Linkshänderin geworden sein.
    Ich besprach das Problem beim Mittagessen mit meiner Frau, der besten Ehefrau von allen. Aber als wir die ersten französischen Vokabeln wechselten, legte sich über das Antlitz unseres jüngsten Sohnes ein Ausdruck unbeschreiblicher, herzzerreißender Trauer. Aus großen Augen sah er uns an und fragte mit schwacher Stimme: »Walum? Walum?«
    Das Kind hatte etwas gemerkt, kein Zweifel. Das Kind war aus dem inneren Gleichgewicht geraten. Er hängt sehr an uns, der kleine Amir, ja, das tut er.
    Ein kurzer Austausch stummer Blicke genügte meiner Frau und mir, um den Plan einer Auslandsreise sofort aufzugeben. Es gibt eine Menge Ausland, aber es gibt nur einen Amir. Wir fahren nicht, und damit gut. Wozu auch? Wie könnte uns Paris gefallen, wenn wir ununterbrochen daran denken müssten, dass Amir inzwischen zu Hause sitzt und mit der linken Hand zu schreiben beginnt? Man hält sich Kinder nicht zum Vergnügen, wie Blumen oder Zebras. Kinder zu haben, ist eine Berufung, eine heilige Pflicht, ein Lebensinhalt. Wenn man seinen Kindern keine Opfer bringen kann, dann lässt man besser alles bleiben und geht auf eine Erholungsreise.
    Das war genau unser Fall. Wir hatten uns sehr auf diese Erholungsreise gefreut, wir brauchten sie, physisch und geistig, und es wäre uns sehr schwergefallen, auf sie zu verzichten. Wir wollten ins Ausland fahren.
    Aber was tun wir mit Amir, dem traurigen, dem großäugigen Amir?
    Wir berieten uns mit Frau Golda Arje, unserer Nachbarin. Ihr Mann ist Verkehrspilot, und sie bekommt zweimal im Jahr Freiflugtickets. Wenn wir sie richtig verstanden haben, bringt sie ihren Kindern die Nachricht jeweils stufenweise bei, beschreibt ihnen die Schönheit der Länder, die sie überfliegen wird, und kommt mit vielen Fotos nach Hause. So nimmt das Kind an der Freude der Eltern teil, ja es hat beinahe das Gefühl, die Reise miterlebt zu haben. Ein klein wenig Behutsamkeit und Verständnis, mehr braucht’s nicht. Noch vor hundert Jahren wären Frau Golda Arjes Kinder, wenn man ihnen gesagt hätte, dass die Mutti nach Amerika geflogen ist, in hysterische Krämpfe verfallen und wären Taschendiebe geworden. Heute, dank der Psychoanalyse und dem internationalen Flugverkehr, finden sie sich mühelos mit dem Unvermeidlichen ab.
    Wir setzten uns mit Amir zusammen. Wir wollten offen mit ihm reden, von Mann zu Mann.
    »Weißt du, Amirlein«, begann meine Frau, »es gibt so viele tiefe Seen in –«
    »Nicht wegfahren!« Amir stieß einen schrillen Schrei aus. »Mami, Papi, nicht wegfahren! Amir nicht allein lassen! Keine Seen! Nicht fahren!«
    Tränen strömten über seine zarten Wangen, angstbebend presste sich sein kleiner Kinderkörper gegen meine Knie.
    »Wir fahren nicht weg!« Beinahe gleichzeitig sprachen wir beide es aus, gefasst, tröstend, endgültig. Die Schönheiten der Schweiz und Italiens zusammengenommen rechtfertigen keine kleinste Träne in unseres Lieblings blauen Augen. Sein Lächeln beglückt uns mehr als jedes Alpenglühen. Wir bleiben zu Hause. Wenn das Kind etwas älter ist, sechzehn oder zwanzig wird man weitersehen. Damit schien das Problem gelöst.
    Leider trat eine unvorhergesehene Komplikation auf: Am nächsten Morgen beschlossen wir, trotzdem zu fahren. Wir lieben unseren Sohn Amir, wir lieben ihn über alles, aber wir lieben auch Auslandsreisen sehr. Wir werden uns von dem kleinen Unhold nicht um jedes Vergnügen bringen lassen.
    In unserem Bekanntenkreis gibt es eine geschulte Kinderpsychologin. An sie wandten wir uns und legten ihr die delikate Situation genau auseinander.
    »Ihr habt einen schweren Fehler gemacht«, bekamen wir zu hören. »Man darf ein Kind nicht anlügen, sonst trägt es seelischen Schaden davon. Ihr müsst ihm die Wahrheit sagen. Und unter gar keinen Umständen dürft ihr heimlich die Koffer packen. Im Gegenteil, der Kleine muss euch dabei zuschauen. Er darf nicht das Gefühl haben, dass ihr ihm davonlaufen wollt.«
    Zu Hause angekommen, holten wir die beiden großen Koffer vom Dachboden, klappten sie auf und riefen Amir ins Zimmer.
    »Amir«, sagte ich geradeheraus und mit klarer, kräftiger Stimme, »Mami und Papi –«
    »Nicht wegfahren!«, brüllte Amir. »Amir liebt
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