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Die Nebelkinder

Die Nebelkinder

Titel: Die Nebelkinder
Autoren: Joerg Kastner
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bedingungslos auf Wenrichs Seite geschlagen hatte, war ihr klargeworden, dass sie in dem Abt keinen Freund und keinen Fürsprecher hatte.
    »Wir wollen das Werk der Gerechtigkeit vollbringen, bevor die Sonne aufgeht. Wenn das Licht auf die Welt fällt, die unser Herr erschuf, soll das Böse getilgt sein.«
    Mit diesen Worten drehte Manegold sich um und ging auf das Haupttor der Abtei zu. Ihm folgten die Mönche, die ein Bußgebet anstimmten. Nach ihnen kamen die Soldaten mit den Verurteilten in ihrer Mitte. Knechte und Mägde strömten aus ihren Unterkünften oder aus den Stallungen und Wirtschaftshäusern, wo sie in aller Frühe schon ihrer Arbeit nachgegangen waren, um sich dem Aufmarsch anzuschließen. Ihr Ziel war die Richtstatt auf einem kleinen Hügel außerhalb des Klosters.
    Noch lagen die Schatten der Nacht auf dem Mond-
    Seeland und nur langsam lösten sie sich auf. Von dem Gewässer wallte dicker Nebel herüber, als wollte er den Schatten bei ihrem Kampf gegen das Tageslicht helfen. Auf dem Weg zur Richtstatt wurde Gerswind bewusst, dass sie niemals mehr die Sonne sehen würde, und bei dieser Erkenntnis überfiel sie tiefe Trauer.
    Am Hügel wurde die Prozession von einer Menschenmenge erwartet. Aus den Hütten der Fischer und Handwerker und aus den verstreuten Gehöften waren Männer, Frauen und sogar Kinder herbeigeeilt, um der zweifachen Hinrichtung beizuwohnen. Den Kindern mochte es zur Abschreckung dienen, den Frommen zur Erbauung, doch für so manche war es auch ein Schauspiel, das eine willkommene Ablenkung im tristen Einerlei ihrer täglichen Arbeit bot. Das Funkeln in den Augen verriet die Gier der Menschen nach Blut und Todesqualen.
    Oben auf dem Hügel standen der Richtblock und der Scheiterhaufen. Beim Anblick des Letzteren wusste Gerswind auf einmal, um was sie hätte beten sollen: um einen schnellen, möglichst schmerzlosen Tod.
    Als der Gesang der Mönche verstummt war, trat Wenrich vor, blickte langsam in die Runde und sagte mit lauter Stimme: »Heute, am Tag der heiligen Cäci- lia, sind wir hier zusammengekommen, um zwei Urteile gegen das Leben zu vollstrecken. Zwei Sünder sollen die Gelegenheit erhalten, ihre Seelen im Fegefeuer zu läutern. Der eine ist ein Heide und wird vielleicht im Jenseits die Bekehrung erfahren, der er sich auf dieser Welt verweigert hat. Er verhalf dem zum Tode verurteilten Nebelkind Albin zur Flucht und soll deshalb die Strafe erleiden, die dem Entflohenen zugedacht war: Auf dem Richtblock soll der Nordmann Arne enthauptet werden. Gerswind, die Tochter des von den Nebelkindern ermordeten Grafen Guntram, hat sich auf unzüchtige Weise mit den Mördern ihres Vaters eingelassen. Sie hat ihre Seele und ihren Leib befleckt. Die Seele wird im Jenseits geläutert, der Leib aber soll schon hier den reinigenden Flammen übergeben werden. Gerswind soll aufbrennendes Holz gebunden werden und im Feuer ihr Leben aushauchen. Die Strafen werden sogleich vollzogen.«
    Soldaten packten Arne und zwangen ihn vor dem Richtblock auf die Knie. Sie drückten seinen Kopf seiüich gegen das blutfleckige Holz und banden sein Haupt mit zwei sich überkreuzenden Lederriemen fest.
    Auch Gerswind wurde ergriffen und zum Scheiterhaufen geschleppt. Sie wehrte sich nicht. Es wäre zwecklos gewesen und hätte nur das Vergnügen derjenigen gesteigert, die sich an dem blutigen Spektakel ergötzen wollten. Man band die Verurteilte an einen Pfahl, der aus dem aufgeschichteten Holz herausragte. Wenrich selbst ließ sich die Fackel reichen, um das tödliche Feuer zu entzünden. Hauptmann Volko hatte mit beiden Händen das schwere Schwert ergriffen, mit dem Arnes Hinrichtung vollstreckt werden sollte.
    Gebannt starrte die Menge auf die beiden Todgeweihten, um sich keinen Augenblick der Vollstreckung entgehen zu lassen. Niemand achtete auf den Nebel, der dicker und dicker wurde und den Hügel heraufkroch wie ein lebendiges Wesen, das jede Handbreit Land mit seiner gelbgrauen Wabermasse bedecken wollte. Schon versanken viele bis zu den Knien in dem undurchsichtigen Brodem, der viel stärker war als der übliche Morgennebel.
    Die Mönche streiften ihre Kapuzen ab, als Wenrich zum Scheiterhaufen schritt. Gerswind glaubte in seinem bärtigen Antlitz Vorfreude auf das Kommende zu erkennen. Ihr Blick huschte über die anderen Gesichter. Manegold sah unbeteiligt aus, als weilten seine Gedanken woanders. Waldo wirkte fast ein wenig betrübt, wobei seine Sorge wohl nicht den beiden Verurteilten galt, sondern
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