Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nanowichte

Die Nanowichte

Titel: Die Nanowichte
Autoren: Andrew Harman
Vom Netzwerk:
hab’s beinahe schon aufgeben, auf Sie zu warten. Aber immerhin: besser später als nie, oder?«
    Quintzi fuhr herum, seine bloßen Füße trommelten auf den Boden wie die Läufe eines entsetzlich erschrockenen Kaninchens.
    Der Mann trat ins Licht und hielt ihm lächelnd eine seltsame Glaskugel hin. »Schwierigkeiten, weil Sie nicht wissen, wohin Ihr Lebensweg führt?« begann er seinen einstudierten Sermon abzuspulen. Quintzi schrie auf und rannte davon. Rannte durch die Brückenechsenstraße, warf, ohne sich um die Reaktion der Passanten zu kümmern, die Hände hoch und schlug wild um sich.
    »He, warten Sie doch! Kommen Sie zurück!« schrie der Mann. »Lassen Sie sich doch zeigen, wie das Ding funktioniert. Sie werden begeistert sein. Jetzt kommen Sie schon! Denken Sie doch auch an mich und meine Provision! Und an meinen Terminkalender!« Er zuckte mißbilligend die Achseln und steckte die Kugel wieder in die Tasche. »Ein miserables Gewerbe«, knurrte er. »Ist doch immer das gleiche: ›Nein, brauch ich nicht, hau’n Sie ab‹. Aber wenn Sie dann kapiert haben, wie brauchbar das Ding ist, kann man gar nicht schnell genug liefern.«
    Er warf sich die Tasche über die Schultern und spazierte gemächlich hinter der schreienden Gestalt mit dem Badetuch her.
    Im Tempel bombardierte Tehzo derweil die randalierenden Veranstaltungsbesucher mit einer Anzahl mäßig anstößiger Witze und führte sie, einen nach dem anderen, wieder auf ihre Plätze zurück. Mir raumfüllender und nur ein ganz klein wenig hysterisch klingender Stimme rasselte er seine Sprüche herunter. Die Show, seine Show ging weiter. Ganz bestimmt – es waren immerhin noch sechsunddreißig andere Preise zu verleihen. Und daß das über die Bühne ging, dafür wollte er schon sorgen. Schließlich hatte es ihn eine nette Summe gekostet, die Toga zu leihen. Und diese Leihgebühr noch einmal bezahlen zu müssen, nur weil die zweite Programmhälfte verschoben wurde, das kam überhaupt nicht in Frage.
    »Womit wir, meine Damen und Herren, bei unserem nächsten Preis wären, dem Preis für den Besten Ersatzseher im Bereich Wettervorhersage. Die Bewerber sind – ich nenne sie in umgekehrter Reihenfolge …«
    Nach wenigen Minuten hatte er die Menge wieder fest im Griff, das Publikum fraß ihm bereitwillig aus der Hand, der unselige Vorfall verblaßte bereits und verschwand aus dem Kurzzeitgedächtnis der Anwesenden. [4]
    Quintzi rannte keuchend die Treppen zu seiner Bruchbude in der Wühlechsengasse hinauf, stürmte durch die Tür, warf sie ins Schloß und stemmte sich, von panischer Angst geschüttelt, mit den nackten Schultern dagegen.
    Tiemecx hopste auf seiner Stange auf und ab, er wunderte sich, was Quintzi schon so früh zu Hause wollte. Dann dämmerte ihm plötzlich (es war eine jener verblüffend blitzartigen Eingebungen, wie sie unsere gefiederten Freunde mitunter überkommen), daß möglicherweise und hoffentlich nur vielleicht irgend etwas Entsetzliches passiert war.
    Quintzi lief der Schweiß in Strömen über die tief gefurchte Stirn, als ihm mit einem Schlag bewußt wurde, was die Summe des heutigen Tages war: Es war sein fünfundsechzigster Geburtstag; eine Schwarzsichtige Übelunke war ihm über den Weg gelaufen; er hatte den angesehensten Preis von ganz Axolotl gewonnen; der gesamte, seiner augurischen Auspiziatur überantwortete Avocadovorrat war vernichtet; er hatte den angesehensten Preis von ganz Axolotl verloren … und es war noch nicht einmal Mittag.
    Mit Schaudern spürte er, daß eine neue, nie gekannte Angst ihn befiel: Mit Flügeln, so schwarz wie die Finsternis des Todes kam sie heran, flatterte wild und grub ihre Krallen in die Schultern des Selbstvertrauens. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, denn jetzt – urplötzlich war ihm das klar geworden –, jetzt würde niemals wieder irgend jemand seinem hellseherischen Rat trauen. Das Herz stockte ihm, als er seine Zukunft vor sich liegen sah: endlos, weglos, leblos und karg. Sein geistiges Auge blinzelte erschrocken, als es ihn auf diesem Ödland entdeckte: einen winzigen Fleck, unscheinbar, entbehrlich …
    Ohne seherischen Weitblick würde er nie wieder irgendwo eine Anstellung finden. Beinahe sechzig Jahre lang hatte er Tag für Tag darum gebetet, daß es ihm heute endlich vergönnt sein möge, seine erste von flammenden Lichtblitzen und Stimmengeschrei im Kopf begleitete Vision zu erleben und seinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft von Axolotl einzunehmen. Von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher