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Die Nachzüglerin (German Edition)

Die Nachzüglerin (German Edition)

Titel: Die Nachzüglerin (German Edition)
Autoren: Regine Sondermann
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Nadel wieder hoch und entschied
mich für Rio Reisers "Es ist vorbei Junimond". Weil
ich aber schon wieder heulen wollte, machte ich auch
damit Schluss und ließ die Musik aus. "Ich werde
Alexej kriegen. Ich habe verdammt viel zu verlieren,
und es ist noch lange nicht vorbei."
    Den ganzen Tag hatte ich noch nichts gegessen. Ich
nahm mir die letzten Lebkuchen aus der Fabrik. Einen
halben Monatslohn waren sie mir schuldig geblieben,
weil ich einfach weggeblieben war. Jetzt fehlte mir der
Mut, ihn einzufordern. Ich suchte mir aus Evas Regal
ein Buch, den ersten Band von Die Brüder
Karamasow von Dostojewskij. Es war mein erstes
russisches Buch. Ich blieb im Bett liegen und stand nur
auf, um aufs Klo zu gehen und um mir etwas zum
Essen zu besorgen. Ich las alle drei Bände hintereinander. Ich las sie nicht, ich sog sie in mich auf. Mit
Gruschenka folgte ich Dimitrij Karamasow in die Verbannung. Mein ganzes bisher gelebtes Leben war
bedeutungslos geworden. Während ich ein paar
lächerliche Probleme hatte, litten diese Menschen
Qualen und schienen sie dabei noch auszukosten.
Nach drei Tagen stand ich auf, fuhr in die Universität
und schrieb mich für russische Literaturwissenschaft
ein.
KAPITEL 4
    Alexej hatte seiner Mutter verboten, ihn vom
Flughafen abzuholen. Sollte ich an ihrer Stelle dort
stehen? Ich wusste nicht, wann er in Nürnberg
ankommen wollte. In der Fußgängerzone traf ich
Holger, der mit Alexej zusammenwohnte. Seine Haare
hatte er ganz kurz geschnitten. Im Gehen drehte er
sich eine Zigarette. Er trug einen schwarzen
Ledermantel, der so lang war, dass er fast bis zum
Boden reichte. Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen,
aber diesmal nahm ich meinen ganzen Mut zusammen
"Hallo, Holger!"
Er war cool genug, sich erst angesprochen zu fühlen,
als ich ihm den Weg versperrte.
"Weißt du, wann Alexej wiederkommt?"
Er tat, als hätte er Mühe, sich an seinen Mitbewohner
zu erinnern.
"Es gibt morgen eine Begrüßungsfeier für ihn. Dann
muss er wohl kommen, oder nicht?"
Ich ließ ihn stehen. Es war sinnlos, darauf zu warten,
dass er mich einlud.
    Die beiden lebten in einem Altbau im Norden der
Stadt. Als ich am nächsten Abend die Treppe
hinaufstieg, hielt ich mich am Geländer fest. Die
Scheiben waren aus den Fenstern herausgebrochen, es
wehte ein starker Wind. Ich blieb auf der Hälfte der
Stufen stehen. Ob ich umkehren sollte? Eine Ratte
quietschte vor mir auf und verschwand so schnell die
Treppe herunter, dass ich daran zweifelte, ob ich sie
wirklich gesehen hatte. Jetzt war es entschieden. Ich
musste nach oben. Ich wollte dem Tier auf keinen Fall
noch einmal über den Weg laufen.
Alexej erschrak, als er mir die Tür aufmachte: "Du bist
es." Ich wollte heulen und diesen Scheißkerl fragen,
wo er denn gewesen sei. Er zog mich an sich. Ich stieß
mit dem Kopf an seine Schulter und versteckte mein
Gesicht an ihm. Er roch nach Kreuzkümmel, nach
Reisestaub und starkem Tabak. "Ich war verbannt –
nach Sibirien." Er schleppte mich in das große
Zimmer, in dem seine beiden Freunde auf einer
Matratze saßen. Holger und Paul teilten sich einen
Joint. Vor ihnen stand ein Aschenbecher, der so groß
war wie ein Hundenapf. Alexej wies mich auf das
gegenüberliegende Polster. Außer der Stereoanlage,
einem Fernseher und einer alten Stehlampe gab es
nichts als einen Haufen Kleider in der Ecke. Meine
Wohnung war dagegen ein Luxusappartement. Alexej
strahlte.
"Franka ist auch da."
Er zwinkerte mir zu: "Meine Franka."
Seine Freunde bewunderten ihn. Er hatte ein
Abenteuer bestanden. Es störte sie nicht einmal, dass
er sich zu mir bekannte.
    "Bist du immer noch kommunistisch drauf?", fragte
Paul, der selten sprach, und wenn, dann nur sehr leise
und bedacht. Alexej schnippte die Asche seiner
Zigarette ab. Er schüttelte seine schwarzen Locken.
"Mein Sprachlehrer hat gesagt: In Deutschland hat der
Arme mehr als der Reiche in Russland."
Ich wunderte mich, dass er mir immer noch den Arm
um die Schultern gelegt hatte. Die anderen kümmerten
sich nicht darum.
"Wie viel kostet ein Brot?"
Holger traf sich jeden Donnerstag mit Freunden, um
gemeinsam mit ihnen im "Kapital" zu lesen. Er nahm
die Chance wahr, Alexej nach der sowjetischen Realität
zu befragen.
"Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, es kostet
umgerechnet zwei Pfennige."
Alexej zuckte mit den Achseln.
"Das Brot ist ultrabillig ebenso die Miete. Ich möchte
trotzdem nicht da leben. Hier kann ich mir im
Supermarkt zusammenklauen, was ich will. Dort gibt
es viele Sachen nicht mal
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