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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut
Autoren: Hans Waal
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Fernseher über seinem Bett, während ihn ein Kollege von oben bis unten abfilmte. Er blieb auch dabei, als das Mädchen seine Fragen stellte, und ich nahm mir ein Beispiel an ihm. Kein einziges Wort bekam sie von uns, aber wir machten auch kein Theater - mehr war wirklich nicht drin, Benny. Ich blieb sogar ruhig, als Zeitz einsprang und den Reportern tatsächlich den gleichen Mist erzählen wollte, mit dem es Wolf schon bei mir probiert hatte: kein Friedensvertrag, immer noch Krieg und so weiter. Der einzige Unterschied war, dass Zeitz allen Ernstes behauptete, die Bundesregierung hätte seit Jahrzehnten gar kein Interesse daran, diesen Zustand zu ändern.
    »Der Staat wäre doppelt und dreifach pleite, wenn wir ehrlich damit umgehen würden«, sagte er, »solange noch irgendwelche Opfer leben, wird es auch keinen Frieden geben - wir brauchen den Krieg wie die Kirche die Erbsünde. Er sichert unsere Existenz.«
    Die Opfer waren schuld, natürlich, das kennt man ja. Laut Zeitz war der sogenannte Schlussstrich also nicht mal eine ethische Hemmschwelle, sondern eher eine Frage der Kosten. Und deine ehrgeizige Kollegin hielt das offenbar für eine Sensation.
    »Wollen Sie damit sagen«, fragte sie fiebernd, »wir rennen alle ein paar verwirrten Nazis hinterher - dabei drückt sich das ganze Land vor der Wahrheit? Vor dem Ende des Krieges?«
    Zeitz hob abwehrend die Hände, aber gleichzeitig verschwörerisch die Augenbrauen: »Ich will damit gar nichts sagen, um Gottes Willen. Allerdings können Sie jeden Völkerrechtler in Ihrer Nachbarschaft fragen, oder Sie schauen mal in die UN-Charta ...«
    Vielleicht kannst du dir ungefähr vorstellen, was es mich für Anstrengungen kostete ... wahrscheinlich kannst du es nicht. Zum Glück rollte Gerd ab und zu mit den Augen und deutete mit der Fernbedienung in der Hand einen Dachschaden an, den sich Zeitz bei seinem Kopfsprung von der Bühne zugezogen haben musste. Ich war nur froh, dass er da war, dass ich mich in ihm getäuscht hatte, und versuchte, mich auch auf die Videotextnachrichten zu konzentrieren, durch die sich Gerd die ganze Zeit blätterte.
    Mehrere Sender berichteten von »einem tragischen Zwischenfall beim Internationalen Historikertag im Berliner Kongresszentrum«. Ein »offenbar verwirrter Mann« habe das Podium gestürmt und sich vor den Augen der Wissenschaftler ein Feuergefecht mit Sicherheitskräften geliefert. »Zur Identität des Mannes«, hieß es, »kann die Polizei noch keine Angaben machen.« Entgegen ersten Augenzeugenberichten habe er jedoch kein Nazikostüm getragen. Ich weiß, es ist ein böses Wort, aber alle berichteten wie gleichgeschaltet falsch. Dass es kein Kostüm war, stimmte als Einziges.
    Weil Zeitz gerade über das Deutsche Reich schwadronierte, das auf dem Papier angeblich nach wie vor existiere und Krieg führe, hätte ich die nächste Meldung beinahe überlesen. Gerd musste mich erst darauf aufmerksam machen: Die für Anfang Juni turnusmäßig angesetzte UN-Vollversammlung, hieß es da, werde nun doch nicht über den deutschen Antrag auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat abstimmen. Na und, dachte ich, dann las auch ich den Namen, der in diesem Zusammenhang zitiert wurde: Die Bundesregierung, so Lars Schiller vom Auswärtigen Amt, habe ihren Antrag zurückgezogen, nachdem die USA und Großbritannien signalisiert hatten, für einen solchen Schritt sei die Zeit noch nicht reif.
    Schiller konnte erst seit wenigen Stunden im Amt sein, trotzdem teilte ich Buschs stumme Empörung darüber kaum. Klar war es paradox, sich jemandes Schweigen mit einem Posten als Sprecher zu kaufen. Aber irgendwie passte es auch zu den beiden. Für Schiller war Desinformation - was sonst macht ein Pressesprecher? - eigentlich sogar genau der richtige Job.
    Falls es dich tröstet, Evelyn, dein Freund Jäger war gar nicht mehr auf dem Flur. Nur zwei Polizisten in Uniform und zwei von diesen grauen Wichtigtuern hielten noch vor dem Zimmer Wache und hatten offenbar keine Lust, sich mit Elisabeth von Jagemann anzulegen. Anfangs wollten sie mich nicht einmal klopfen lassen.
    »Da ist er ja«, rief sie, nachdem sie die Tür einen Spalt weit geöffnet hatte, und starrte mir in die Augen wie ein Hypnotiseur: »Mein Enkel.« Dann zog sie mich auch schon sanft in den Raum, als hätte sie dort wirklich nur auf mich gewartet.
    Betreten stand ich vor einer Mumie von Mensch. Mehr als ein paar piepsende Kontrollströme war von Fritz nicht mehr übrig. Eine Maschine pumpte
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