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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter
Autoren: Petra Hammesfahr
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gab. Jürgen legte auf und verzog das Gesicht. «Himmel, war der kurz angebunden. Bei Udo ist sie nicht. Es hat sie auch keiner gesehen.»
    Sorgen um Rena machte ich mir anfangs nicht. Im Gegenteil, ich war verärgert. Annes Worte von der Krankheit am nächsten Morgen und Hennessens Hinweis auf das wieselflinke Verschwinden ließen nur einen Schluss zu: Rena hatte den Feldweg genommen. Sie wusste, dass wir ihr dort nicht mit dem Wagen folgen konnten. Sie würde sich einen tüchtigen Schnupfen holen. Eine gute Entschuldigung, um am nächsten Morgen im Bett zu bleiben.
    Jürgen amüsierte sich über meinen Ärger. «Reg dich nicht auf, Vera. Du weißt doch, wie sie ist, wenn es um Mathe geht.»
    «Wir können ihr das aber nicht so durchgehen lassen.»
    Jürgen zuckte mit den Schultern und grinste. Ich zog Tuch undMantel, Schuhe und Strümpfe aus. Im Gegensatz zu Rena, die ausschließlich in derben Jeans herumlief, trug ich einen Rock. Er war vorne durchnässt. Jürgen verlangte, dass ich ihn auszog. Er gab mir auch etwas zu trinken. Unseren Schlummertrunk nannte er das. Jeden Abend die gleiche Zeremonie. Wenn die Gläser leer waren, gingen wir ins Bett.
    Dann saßen wir da, die Ohren voll Wagner, als bliesen die Posaunen zum Weltuntergang. Dass Mutter bei dem Lärm schlafen konnte! Wir sprachen über Hennessen, der nicht ernsthaft angenommen haben konnte, ich käme nachts um halb elf durch ein Unwetter gefahren, um Bella zu bezahlen, und dem wir in den nächsten Tagen einen Scheck geben müssten. Über die Strafpredigt für Rena, die ich mir fest vorgenommen hatte, die Jürgen für überflüssig hielt. Über Eva Kettler und ihre Impertinenz. Jürgen versprach wieder einmal, mit ihr zu reden.
    Wir sprachen auch über die Tragödie, die Kuhlmann getroffen hatte, und seine Reaktion auf die Nachricht. Jürgen kannte ihn, er ist im Dorf aufgewachsen und kennt fast alle.
    «Er wird’s wieder versuchen», meinte er, «sobald sich ihm die Gelegenheit bietet. Er war immer depressiv und hätte schon vor Jahren therapeutische Hilfe gebraucht. Aber wenn hier einer zum Psychologen geht, ist er für die anderen verrückt. Das tut sich keiner freiwillig an. Kuhlmann hat sich an Annegret festgehalten.»
    Jürgen schüttelte den Kopf, murmelte: «Armer Kerl. Zwei arme Kerle, wenn man’s genau nimmt. Für Udo ist es vielleicht noch schlimmer.» Annegret Kuhlmann sei eine geborene von Wirth gewesen, erklärte Jürgen, die Zwillingsschwester von Udo.
    «Dann ist Rena unter aller Garantie zu ihm gelaufen! Sie hat von Hennessens Schwester gehört, was passiert ist.» Und Rena hatte ein mitfühlendes Naturell. Sie ertrug es nicht, wenn ein Mensch litt oder trauerte, setzte alles daran zu trösten.
    Jürgen schüttelte erneut den Kopf. «Vera, es hat bei den von Wirths kein Mensch einen Zipfel von ihr gesehen. Sie sitzt irgendwodraußen und lässt sich Zeit. Sie weiß genau, dass wir ihr auf dem Weg nicht entgegenkommen können.»
    Können schon, dachte ich, nur nicht fahren. Hin und wieder warf ich einen Blick auf die Uhr und dachte, jetzt muss sie bald kommen. Aber Rena kam nicht.

2.   Kapitel
    Um halb zwölf wurde es im ersten Stock still. Vater hatte sein abendliches Wagner-Ritual vollzogen. Der Lärm im Haus hatte das Gerumpel draußen übertönt und mir das Gefühl vermittelt, es sei alles wie immer. Die plötzliche Ruhe im ersten Stock machte mich nervös. «Jetzt ist sie seit anderthalb Stunden unterwegs», sagte ich. «Sie müsste längst hier sein. Es sind doch nur zwei Kilometer.»
    Jürgen schmunzelte. «Zwei Kilometer im Sturm. Und wenn du mit deiner Vermutung richtig liegst, wird sie keinen Schritt schneller gehen als unbedingt nötig. Wenn sie überhaupt geht. Ich traue ihr zu, dass sie sich unter die erste Unterführung gesetzt hat. Da wird sie nicht nass und ist auch ein bisschen vor dem Wind geschützt. Am besten schreibst du schon mal die Entschuldigung für die Schule. Und dann gehen wir ins Bett. Ich habe nicht vor, die halbe Nacht im Sessel zu sitzen und darauf zu warten, dass unser Fräulein Tochter eintrudelt. Ich brauche meinen Schlaf.»
    Es gibt zwei Unterführungen im Bahndamm, damit die Bauern mit ihren Traktoren und Maschinen nicht weite Umwege durchs Dorf fahren müssen. Nur konnte ich mir nicht vorstellen, dass Rena sich unter einer verkrochen hatte. Es war nicht die erste Mathematikarbeit, der sie lieber ausgewichen wäre. Und sie war noch nie so spät heimgekommen. Sie musste wissen, dass wir uns um sie
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