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Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt

Titel: Die Morgenlandfahrt
Autoren: Hermann Hesse
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suchte Einsamkeit. Flackernd und ziemlich betrunken lief Hoffmann zwischen den Gästen hin und wider, viel sprechend, klein, ko-boldisch, und auch er war, wie sie alle, an Gestalt nur halbwirklich, nur halbvorhanden, nicht ganz dicht, nicht ganz echt, während der Archivar Lindhorst, zum Spaße den Drachen spielend, mit jedem Atemzug Feuer schnob und Kraft aushauchte wie ein Automobil. Ich fragte den Diener Leo, warum das wohl so sei, daß die Künstler manchmal nur wie halbe Menschen erschienen, während ihre Bilder so unwiderleglich lebendig aussähen. Leo sah mich an, verwundert über meine Frage. Dann ließ er den Pudel los, den er auf dem Arm getragen hatte, und sagte: »Bei den Müttern ist es auch so. Wenn sie die Kinder geboren und ihnen ihre Milch und ihre Schönheit und Kraft mitgegeben haben, dann werden sie selber unscheinbar, und es fragt niemand mehr nach ihnen.«
    »Das ist aber traurig«, sagte ich, ohne eigentlich viel dabei zu denken.
    »Ich denke, es ist nicht trauriger als alles andre auch«, sagte Leo, »es ist vielleicht traurig, und es ist auch schön. Das Gesetz will es so.«
    »Das Gesetz?« fragte ich neugierig. »Was ist das für ein Gesetz, Leo?«
    »Es ist das Gesetz vom Dienen. Was lange leben will, muß dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange.«
    »Warum streben dann so viele nach Herrschaft?«
    »Weil sie es nicht wissen. Es gibt wenige, die zum Herrschen geboren sind, sie bleiben dabei fröhlich und gesund. Die ändern aber, die sich bloß durch Streberei zu Herren gemacht haben, die enden alle im Nichts.«
    »In welchem Nichts, Leo?«
    »Zum Beispiel in den Sanatorien.«
    Ich verstand wenig davon, und dennoch blieben die Worte mir im Gedächtnis, und im Herzen
    blieb mir ein Gefühl, daß dieser Leo allerlei wisse, daß er vielleicht mehr wisse als wir ändern, die scheinbar seine Herren waren.
    II

    WAS ES WAR, DAS UNSERN TREUEN LEO
    bestimmte, uns mitten in der gefährlichen
    Schlucht von Morbio Inferiore plötzlich zu verlassen, darüber hat wohl jeder Teilnehmer an die -
    ser unvergeßlichen Reise sich seine Gedanken gemacht, und erst sehr viel später begann ich die wahren Hergänge und tieferen Zusammenhänge
    dieses Ereignisses einigermaßen zu ahnen und zu überblicken, und es zeigte sich, daß auch dieses scheinbar nebensächliche, in Wirklichkeit tief ein-schneidende Abenteuer, das Verschwinden Leos, keineswegs ein Zufall, sondern ein Glied in jener Kette von Verfolgungen war, durch welche der Erbfeind unser Unternehmen zum Scheitern zu bringen suchte. An jenem kühlen Herbstmorgen, als das Fehlen unsres Dieners Leo entdeckt wurde und alles Forschen nach seinem Verbleib erfolglos blieb, war ich gewiß nicht der einzige, der zum erstenmal etwas wie eine Ahnung von Unheil und drohendem Verhängnis im Herzen spürte.
    Genug, für den Augenblick war die Lage diese: Wir lagerten, nachdem wir in kühnem Zuge halb Europa und einen Teil des Mittelalters durchquert hatten, in einem tiefeingeschnittenen Felsen-tal, einer wilden Bergschlucht an der italienischen Grenze, und suchten nach dem unerklärlicher-weise verlorengegangenen Diener Leo, und je länger wir ihn suchten und je mehr im Laufe des Tages unsre Hoffnung schwand, ihn wieder aufzufinden, desto mehr fühlte sich jeder von uns von dem beklemmenden Gefühl durchdrungen, es sei da nicht nur ein beliebter und angenehmer Mann aus unsrer Dienerschaft entweder verunglückt oder entlaufen oder uns durch Feinde geraubt worden, sondern es sei dies der Beginn eines Kampfes, das erste Anzeichen eines Sturmes, der über uns herein-brechen werde. Den ganzen Tag bis in die tiefe Dämmerung verwandten wir auf die Nachfor-schungen nach Leo, die ganze Schlucht wurde ab-gesucht, und während diese Bemühungen uns er-müdeten und eine Stimmung von Erfolglosigkeit und Vergeblichkeit in uns allen wuchs, war es wunderlich und unheimlich, wie von Stunde zu Stunde der verlorengegangene Diener an Wichtigkeit, unser Verlust an Schwere zuzunehmen schien. Nicht nur tat es jedem von uns Pilgern, und ohne Zweifel auch der gesamten Dienerschaft, um den hübschen, angenehmen und dienstwilligen Jungen leid, sondern er schien, je gewisser uns sein Verlust wurde, auch desto unentbehrlicher zu werden: ohne Leo, ohne sein hübsches Gesicht, ohne seine gute Laune und seinen Gesang, ohne seine Begeisterung für unser großes Unternehmen schien dieses Unternehmen selbst auf geheimnisvolle Weise an Wert zu verlieren. Mir wenigstens erging es so.
    Ich
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