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Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt

Titel: Die Morgenlandfahrt
Autoren: Hermann Hesse
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Gepäck befunden habe, hoffnungslos auseinander. Bestand auch völlige Übereinstimmung über den hohen Wert dieses Dokumentes und über die Unersetz-lichkeit seines Verlustes, so wagten doch nur wenige von uns (darunter ich selbst) mit Bestimmtheit zu behaupten, dies Dokument sei von uns mit auf die Reise genommen worden. Der eine versicherte, wir hätten etwas Ähnliches zwar in Leos Leinensack mitgeführt, dies sei aber keineswegs das Original-dokument gewesen, sondern natürlich nur eine Abschrift; andre glaubten darauf schwören zu können, daß niemals daran gedacht worden sei, weder das Dokument selbst noch eine Kopie mit auf die Reise zu nehmen, ja daß dies dem ganzen Sinn unsrer Reise Hohn gesprochen haben würde. Hit-zige Auseinandersetzungen schlössen sich hieran, und weiterhin zeigte sich, daß auch über den Verbleib des Originals (einerlei ob wir nun die Kopie möchten besessen und verloren haben oder nicht) vielfache, einander durchaus widersprechende Meinungen herrschten. Das Dokument, so wurde be-hauptet, sei bei der Regierung im Kyffhäuser deponiert worden. Nein, sagten andre, es liege mitbeigesetzt in jener Urne, welche die Asche unsres verstorbenen Meisters enthält. Unsinn, hieß es dann wieder, der Bundesbrief sei ja vom Meister in der nur ihm allein bekannten Urbildschrift abgefaßt, und er sei mit dem Leichnam des Meisters auf dessen Befehl verbrannt worden, und die Frage nach diesem Urbriefe sei ohne jede Bedeutung, weil er nach des Meisters Tod für kein Menschenauge lesbar gewesen wäre; wohl aber sei es unbedingt notwendig festzustellen, wo sich die vier (andre sagten: sechs) Übersetzungen des Urbriefs befänden, die noch zu des Meisters Lebzeiten und unter seiner Aufsicht seien hergestellt worden. Eine chinesische, hieß es, eine griechische, eine hebräische und eine lateinische Übersetzung habe existiert, und sie seien niedergelegt in den vier alten Haupt-städten. Noch viele Behauptungen und Ansichten tauchten auf, manche bestanden hartnäckig auf den ihren, andre ließen sich bald von diesem, bald von jenem gegnerischen Argument über-zeugen, um dann auch die neue Ansicht bald wie -
    der zu wechseln. Kurz, es bestand von damals an keine Sicherheit und Einigkeit mehr in unsrer Gemeinschaft, obwohl die große Idee uns noch immer beisammenhielt.
    Ach, wie gut erinnere ich mich jener ersten Streitig-keiten! Sie waren etwas so Neues und Unerhörtes in unsrem bisher unzerstörbar einigen Bunde. Sie wurden mit Achtung und Höflichkeit geführt, wenigstens anfänglich, sie führten zunächst weder zu Handgreiflichkeiten noch zu persönlichen Vorwürfen oder Beleidigungen; vorerst waren wir noch der ganzen Welt gegenüber eine untrennbar ver-einigte Brüderschaft. Ich höre die Stimmen noch, ich sehe noch unsern Lagerplatz, an dem die erste dieser Debatten geführt wurde, ich sehe zwischen den ungewohnt ernsten Gesichtern hier und dort die goldenen Herbstblätter niederschweben, sehe eins auf einem Knie, eins auf einem Hute liegen-bleiben. Ach, und ich hörte zu, fühlte mich mehr und mehr bedrückt und eingeschüchtert, und war inmitten all der Meinungsäußerungen im Herzen noch völlig meines Glaubens sicher, traurig sicher: daß nämlich im Sacke Leos das Original, der echte alte Bundesbrief enthalten gewesen, und daß er mit ihm verschwunden und verloren sei. So betrü-
    bend dieser Glaube sein mochte, er war aber doch ein Glaube, er stand fest und gab eine Sicherheit.
    Damals freilich dachte ich, daß ich diesen Glauben nur allzu gerne gegen einen hoffnungsvolleren vertauschen würde. Erst später, als ich diesen traurigen Glauben verloren hatte und allen möglichen Meinungen zugänglich geworden war, sah ich ein, was ich an meinem Glauben besessen hatte.
    Aber ich sehe, die Sache läßt sich auf diese Weise nicht erzählen. Aber auf welche Weise wohl ließe sie sich erzählen, diese Geschichte einer einzigartigen Seelengemeinschaft, eines so wunderbar erhöhten und beseelten Lebens? Ich möchte so gerne, als einer der letzten Überlebenden unsrer Kameradschaft, etwas vom Andenken unsrer gro-
    ßen Sache retten; ich erscheine mir wie der überlebende alte Diener etwa eines der Paladine Karls des Großen, welcher in seinem Gedächtnis eine strahlende Reihe von Taten und Wundern bewahrt, deren Bild und Andenken mit ihm dahin-schwindet, wenn es ihm nicht gelingt, etwas davon durch Wort oder Bild, durch Bericht oder Lied an die Nachwelt weiterzuleiten. Aber wie nur, durch welchen
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