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Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt

Titel: Die Morgenlandfahrt
Autoren: Hermann Hesse
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würde schwerer und schwerer werden, es gab kein Ent-rinnen als in das noch Schlimmere. Tiefatmend stand ich und sagte ja.
    Der Sprecher führte mich zu den Tischen, wo die Hunderte von Zettelkästen standen, ich suchte und fand den Buchstaben H., fand meinen Namen,und zwar zuerst meinen Vorfahren Eoban, der vor vierhundert Jahren ebenfalls Mitglied des Bundes gewesen ist, dann kam mein eigener Name, mit dem Hinweise:

    Chattorum r. gest. XC.
    civ. Calv.infid.49

    Das Blatt zitterte mir in der Hand. Indessen erho-ben sich die Oberen einer um den ändern von ihren Sesseln, reichten mir die Hand, blickten mir in die Augen, danach ging jeder davon, es leerte sich der Hohe Stuhl, als letzter kam der Oberste der Obern vom Thron herab, reichte mir die Hand, blickte mir in die Augen, lächelte sein frommes dienendes Bischofslächeln und verschwand als letzter aus dem Saale. Allein blieb ich zurück, den Zettel in der Linken, an den Bescheid des Archivs verwiesen.
    Ich brachte es nicht über mich, sofort den Schritt zu tun und das Archiv über mich zu befragen. Zögernd stand ich im leeren Saal und sah weithin die Kä-
    sten, Schränke, Nischen und Kabinette sich dehnen, die Aufhäufung alle s Wissenswerten, das er für mich irgend geben konnte. Aus Furcht ebensosehr vor meinem eigenen Zettel wie aus brennendem Wissensdurst erlaubte ich mir, mit meiner eigenen Angelegenheit noch ein wenig zu warten und erst noch dies oder jenes in Erfahrung zu bringen, was für mich und für meine Geschichte der Morgenlandfahrt wichtig war. Freilich wußte ich im Grunde längst, daß diese meine Geschichte schon verurteilt und begraben war und daß ich sie nie zu Ende schreiben würde. Aber neugierig war ich doch sehr.
    Aus einem der Zettelkästen sah ich einen schlecht eingelegten Zettel schräg aus den ändern herausra-gen. Ich ging hin, zog den Zettel heraus, er lautete: Morbio Inferiore.

    Kein anderes Schlagwort hätte den innersten Kern meiner Neugierde kürzer und genauer bezeichnen können. Mit leichtem Herzklopfen suchte ich im Archiv die Stelle auf. Es war ein Archivfach, mit ziemlich vielen Papieren angefüllt. Obenauf lag die Kopie einer Beschreibung der Schlucht von Morbio aus einem alten italienischen Buch. Dann ein Quartblatt mit kurzen Nachrichten über die Rolle, welche Morbio in der Bundesgeschichte gespielt hat. Sämtliche Nachrichten bezogen sich auf die Morgenlandfahrt, und zwar auf die Etappe und Gruppe, zu der ich gehört hatte. Unsre Gruppe, so war es hier verzeichnet, war auf ihrer Fahrt bis Morbio gekommen, dort aber einer Prüfung ausgesetzt worden, die sie nicht bestand: dem Verschwinden Leos. Obgleich uns die Bundesregeln hätten führen sollen, und obgleich sogar für den Fall, daß eine Bundesgruppe führerlos bleiben sollte, Vorschriften bestanden und uns beim Antritt der Fahrt eingeschärft worden war, hatte doch unsre ganze Gruppe vom Augenblick an, wo wir Leos Fehlen entdeckten, den Kopf und den Glauben verloren, war ins Zweifeln und unnütze Debattie-ren geraten, und am Ende hatte sich die ganze Gruppe, jedem Bundesgeiste zuwider, in Parteien zerspalten und war auseinander gelaufen. Diese Erklärung des Unheils von Morbio konnte mich nicht mehr so sehr überraschen. Dagegen war ich außerordentlich erstaunt über das, was ich über die Spaltung unsrer Gruppe weiter zu lesen bekam.
    Es hatten nämlich nicht weniger als drei von uns Bundesbrüdern den Versuch gemach t,eineGeschichte unsrer Reise und eine Darstellung des Erlebnisses von Morbio zu geben. Einer von diesen dreien war ich, und es lag denn auch eine saubere Kopie meines Manuskriptes mit im Fache. Die beiden ändern durchlas ich mit den wunderlichsten Gefühlen. Die beiden Autoren schilderten die Vorgänge jenerTage im Grunde nicht viel anders, als ich es getan hatte, und doch, wie anders klang es für mich! Bei dem einen las ich:
    »Es war das Ausbleiben des Dieners Leo, das uns plötzlich und grausam die Abgründe von Uneinig-keit und Ratlosigkeit enthüllte, welche unsern bisher anscheinend so festen Zusammenhalt zerrissen.
    Einige von uns wußten oder ahnten zwar sogleich, daß Leo weder verunglückt noch davongelaufen, sondern daß er von der Bundesleitung heimlich abberufen worden sei. Wie schlecht wir aber diese Prüfung bestanden, daran kann gewiß keiner von uns ohne die tiefste Reue und Beschämung denken.
    Kaum hatte Leo uns verlassen, so waren Glaube und Einmütigkeit unter uns zu Ende; es war, als liefe aus unsichtbarer Wunde das rote
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