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Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt

Titel: Die Morgenlandfahrt
Autoren: Hermann Hesse
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er kann sich nicht verzeihen, daß er in dem Diener Leo nicht den obersten Stuhlherrn Leo zu sehen vermocht hat, und ist nahe daran, den Umfang seiner Untreue am Bunde einzusehen. Aber während er diese Gedankensünden und Torheiten allzu ernst nahm und in diesem Augenblick erst erleichtert einsieht, daß sie durch Lächeln abgetan werden können, vergißt er hartnäckig seine tatsächlichen Ver-schuldungen, deren Zahl Legion und deren jede einzelne schwer genug ist, um hohe Strafe zu verdienen.«
    Angstvoll flatterte das Herz in meiner Brust. Leo wandte sich mir zu: »Angeklagter H., Sie werden später Einblick in Ihre Verfehlungen bekommen, und es wird Ihnen auch der Weg gezeigt werden, sie künftig zu vermeiden. Nur um Ihnen zu zeigen, wie wenig Verständnis Sie noch für Ihre Lage haben,frage ich Sie nun: Erinnern Sie sich an Ihren Gang durch die Stadt in Begleitung des Dieners Leo, der Sie als Bote vor den Hohen Stuhl zu bringen hatte? - Ja, Sie erinnern sich. Und erinnern Sie sich, wie wir am Rathause, an der Paulskirche, am Dom vorüberkamen, und wie der Diener Leo in den Dom eintrat, um ein wenig zu knien und Andacht zu üben, und wie Sie selbst nicht bloß darauf verzichteten, mit einzutreten und Andacht zu verrichten, entgegen dem vierten Satz Ihres Bundesgelübdes, sondern wie Sie ungeduldig und gelangweilt draußen stehenblieben, um die lästige Zeremonie abzuwarten, die Ihnen so entbehrlich schien, die für Sie nichts war als eine widerwärtige Prüfung Ihrer egoistischen Ungeduld? - Ja, Sie erinnern sich. Sie haben, allein schon durch Ihr Verhalten vor dem Tor des Domes, alle grundlegenden Forderungen und Sitten des Bundes mit Füßen getreten, Sie haben die Religion mißachtet, haben einen Bundesbruder verachtet, haben der Gelegenheit und Aufforderung zu Andacht und Versenkung sich unwillig entzogen. Die Sünde wäre unverzeihlich, sprächen nicht besondre mil-dernde Umstände für Sie.«
    Jetzt hatte er mich getroffen. Jetzt kam alles zur Sprache, nicht mehr die Nebensachen, nicht mehr die bloßen Dummheiten. Er hatte mehr als recht.
    Er traf mich ins Herz.
    »Wir wollen«, fuhr der Oberste der Obern fort,
    »die Verfehlungen des Angeklagten nicht alle aufzählen, er soll ja nicht nach dem Buchstaben gerichtet werden, und wir wissen wohl, daß es nur unsrer Mahnung bedarf, um das Gewissen des Angeklagten zu wecken und ihn zum reuigen Selbstankläger zu machen.
    Immerhin, Selbstankläger H., muß ich Ihnen raten, auch noch einige andre Ihrer Taten vor das Gericht Ihres Gewissens zu ziehen. Muß ich Sie an den Abend erinnern, an dem Sie den Diener Leo auf-suchten und von ihm als Bundesbruder wieder-erkannt zu werden wünschten, obwohl dies un-möglich war, da Sie selbst sich als Bundesbruder so unkenntlich gemacht hatten? Muß ich Sie an Dinge erinnern, die Sie selbst dem Diener Leo erzählt haben? An den Verkauf Ihrer Violine? An Ihr verzweifeltes, dummes, engstirniges, selbstmörderi-sches Leben, das Sie seit Jahren geführt haben?
    Und noch eines, Bundesbruder H., darf ich nicht verschweigen. Es ist ja recht wohl möglich, daß an jenem Abend der Diener Leo Ihnen in seinen Gedanken Unrecht getan hat. Nehmen wir an, es sei so. Der Diener Leo war vielleicht etwas zu streng, etwas zu vernünftiger hatte vielleicht nicht genug Nachsicht und Humor für Sie und Ihren Zustand. Aber es gibt höhere Instanzen und un-trüglichere Richter als den Diener Leo. Wie lautete das Urteil der Kreatur über Sie, Angeklagter?
    Erinnern Sie sich des Hundes Necker? Erinnern Sie sich der Ablehnung und Verurteilung, die er über Sie verhängte? Er ist unbestechlich, er ist nicht Partei, er ist nicht Bundesbruder.«
    Er machte eine Pause. Ja, der Wolfshund Necker!
    Gewiß, der hatte mich abgelehnt und verurteilt.
    Ich sagte ja. Das Urteil war mir gesprochen, schon vom Wolfshund, schon von mir selber.
    »Selbstankläger H.«, hob Leo wieder an, und jetzt klang aus dem Goldglanz seines Ornates und seines Baldachins hervor seine Stimme so kühl und hell und durchdringend wie die Stimme des Komturs, wenn er im letzten Akt vor Don Jüans Tür erscheint. »Selbstankläger H., Sie haben mich ange-hört, Sie haben ja gesagt. Sie haben, so vermuten wir, sich selbst schon das Urteil gesprochen.«
    »Ja«, sagte ich mit leiser Stimme, »ja.«

    »Es ist, so vermuten wir, ein verdammendes Urteil, das Sie über sich selbst gesprochen haben?«
    »Ja«, flüsterte ich.
    Nun erhob sich Leo auf dem Throne und breitete sanft die Arme
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