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Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt

Titel: Die Morgenlandfahrt
Autoren: Hermann Hesse
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Antwort.
    »Bist du, Selbstankläger H.«, fuhr er fort, »damit einverstanden, daß der Gerichtshof der Oberen ohne den Vorsitz des Obersten der Obern über dich urteile, oder verlangst du, daß der Oberste der Obern selbst über dich urteile?«
    »Ich bin einverstanden«, sagte ich, »mit dem Urteil der Oberen, ob es mit oder ohne den Vorsitz des Obersten der Obern erfolge.«
    Der Sprecher wollte erwidern. Da klang aus der hintersten Tiefe des Saales eine sanfte Stimme: '
    »Der Oberste ist bereit, das Urteil selbst zu sprechen.«
    Wunderliche Schauer weckte der Klang dieser sanften Stimme in mir. Tief aus der Ferne des Raumes her, aus den Wüstenhorizonten des Archivs, kam ein Mann geschritten, le ise und friedlich war sein Gang, sein Kleid funkelte von Gold, und er kam unterm Schweigen der Versammlung näher, und ich erkannte seinen Gang, erkannte seine Bewegungen, erkannte zuletzt auch sein Gesicht. Es war Leo. In einem feierlichen und prachtvollen Ornat wie ein Papst stieg er durch die Reihen der Oberen zum Hohen Stuhl hinan. Wie eine
    prächtige fremde Blume trug er den Glanz seines Schmuckes die Stufen empor, grüßend erhob sich jede Reihe von Oberen, an der er vorüberkam.
    Sorgfältig, demütig, dienend trug er seine strahlende Würde, demütig, wie ein frommer Papst oder Patriarch Insignien trägt.
    Ich war tief gebannt und durchdrungen von der Erwartung meines Urteils, das ich demütig hin-zunehmen bereit war, ob es nun Strafe oder Be-gnadigung bringe; ich war nicht minder tief davon gerührt und ergriffen, daß es Leo war, der einstige Gepäckträger und Diener, der nun an der Spitze des ganzen Bundes stand und bereit war, über mich zu urteilen. Aber noch viel mehr ergriffen, betrof-fen, bestürzt und beglückt war ich von der großen Entdeckung dieses Tages: daß der Bund vollkommen unerschüttert und mächtig wie je bestehe, daß nicht Leo und nicht der Bund es war, die mich verlassen und enttäuscht hatten, sondern daß nur ich so schwach und so töricht gewesen war, meine eigenen Erlebnisse mißdeutend, am Bund zu zweifeln, die Fahrt ins Morgenland als mißglückt zu betrachten und mich für den Überlebenden und Chronisten einer erledigten und im Sande ver-ronnenen Geschichte zu halten, während ich nichts war als ein Davongelaufener, untreu Gewordener, ein Deserteur. Entsetzen und Beglückung lagen in dieser Erkenntnis. Klein stand ich und demütig zu Füßen des Hohen Stuhles, von dem ich einst als Bruder in den Bund aufgenommen worden
    war, von dem ich einst die Novizenweihe und den Bundesring erhalten hatte und gleich dem Diener Leo auf die Fahrt geschickt worden war. Und mitten in dem allem fiel eine neue Sünde, ein neues unerklärliches Versäumnis, eine neue Schande mir aufs Herz: ich besaß den Bundesring nicht mehr, ich hatte ihn verloren, und ich wußte nicht einmal, wann und wo, hatte ihn bis heute nicht einmal vermißt!
    Mittlerweile begann der Oberste der Obern, begann der golden geschmückte Leo mit schöner, sanfter Stimme zu sprechen, sanft und beglückend flössen seine Worte zu mir herab, sanft und be-glückend wie Sonnenschein.
    »DerSelbstankläger«, sprach esvom hohen Throne,
    »hat Gelegenheit gehabt, sich von einigen seiner Irrtümer zu befreien. Vieles spricht gegen ihn. Es mag begreiflich und sehr entschuldbar sein, daß er dem Bunde untreu wurde, daß er seine eigene Schuld und Torheit dem Bunde vorwarf, daß er an dessen Fortbestand zweifelte, daß er den wun-derlichen Ehrgeiz besaß, zum Geschichtschreiber des Bundes werden zu wollen. Dies alles wiegt ja nicht schwer. Es sind, der Selbstankläger gestatte mir das Wort, lediglich Novizendummheiten. Sie erledigen sich dadurch, daß wir über sie lächeln.«
    Hoch atmete ich auf, und die ganze erhabene Versammlung überflog ein leichtes Lächeln. Daß die schwersten meiner Sünden, sogar mein Wahn, daß der Bund nicht mehr bestehe und daß ich der einzige Treugebliebene sei,vom Obersten der Obern nur als »Dummheiten«, als Kindereien betrachtet wurden, war eine ungeheure Erleichterung und wies mich zugleich aufs strengste in meine Schranken zurück.
    »Aber«, fuhr Leo fort, und jetzt wurde seine sanfte Stimme betrübt und ernst -, »aber es sind dem Angeklagten noch andere, viel ernstere Sünden nachgewiesen, und das Schlimmste daran ist, daß er für diese Sünden nicht als Selbstankläger da-steht, sondern von diesen Sünden gar nichts zu wissen scheint. Er bedauert tief, dem Bunde in Gedanken Unrecht getan zu haben,
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