Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
Vom Netzwerk:
einfach gehenlassen zu können. Alles aus sich herauszuschleudern, sich trösten zu lassen und ihr Leben auf seinem Gesicht zu lesen. Er würde ihr Mut geben und Medikamente, und sie wäre geheilt von jedem törichten Wunsch.
    Suizid ist keine Krankheit. Schön.
    »Wussten Sie, dass die meisten Kirchenglocken zu große Klöppel besitzen?«, erwiderte sie. »Die meisten Glöckner stellen eine viel zu kräftige Schwungdynamik ein, und nach ein paar Jahren hören sich die Glocken an wie leere Salatschüsseln, die aneinanderschlagen. Sie sind verbraucht.«
    »Fühlen Sie sich wie so eine Glocke?«
    »Eine … Glocke? Wieso?!«
    Ich fühle mich, als ob ich nie da war.
    »Sie wollten nicht mehr weiterleben, wie Sie lebten. Warum haben Sie ausgerechnet in Paris versucht, sich zu töten?«
    Wie er das sagt. So vorwurfsvoll. Niemand kommt zum Sterben nach Paris, alle wollen hier leben und lieben, nur ich bin so dumm und denke, dass man hier sterben darf.
    »Es erschien mir angemessen«, antwortete Marianne schließlich.
    Sie hatte es geschafft. Sie hatte den dringenden Wunsch, endlich die Wahrheit zu sagen, überwunden.
    »Gut.« Er stand auf. »Ich möchte gern mit Ihnen einige Tests durchführen, bevor Sie nach Hause fahren. Kommen Sie.« Er stand auf und hielt ihr die Tür auf.
    Marianne sah auf ihre grauen Schuhe und wie ihre Füße einen Schritt vor den anderen taten. Aus dem Zimmer, über den Flur, durch eine Schwingtür, in den nächsten, und immer weiter.
    Ihr Vater war Glockenstimmer gewesen, bevor er aus dem Dachstuhl eines Kirchturms stürzte und sich nahezu alle Knochen brach. Mariannes Mutter hatte ihm dieses Missgeschick für den Rest seines Lebens außerordentlich übelgenommen. Es gehörte sich für einen Mann in diesen Zeiten nicht, seiner Frau solche Umstände zu bereiten.
    Über das Wesen der Kirchenglocke hatte ihr Vater ihr erklärt: »Der Klöppel muss die Glocke küssen, nur ganz leicht, und sie zum Schwingen verführen. Niemals zwingen.«
    Sein Charakter glich dem einer Glocke. Wenn man ihren Vater zwingen wollte, zu reagieren, so harrte er stumm aus, bis man ihn in Ruhe ließ.
    Nach dem Tod ihrer Großmutter hatte er sich dann getraut, aus dem ehelichen Schlafzimmer auszuziehen, und sich im Werkstattschuppen sein Lager bereitet. Bevor Marianne Lothar geheiratet hatte, war sie das Bindeglied zwischen ihren Eltern gewesen, wenn sie ihm Essen in die Werkstatt brachte, wo er sich die Zeit damit vertrieb, kleine Glockenspiele zu bauen. Wenn er Marianne neben sich sah, hatte sie oft die Zuneigung gespürt, die er für sie empfand; er war gerührt, dass er eine Tochter hatte, die ihn liebte und die ihm flüsternd gestand, wie sie sich ihr Leben erträumte; mal wollte sie Archäologin werden, dann Musiklehrerin, und sie wollte Fahrräder für Kinder bauen und in einem Haus am Meer leben. Sie waren beide Träumer gewesen.
    »Du hast zu viel von deinem Vater«, hatte Mariannes Mutter gesagt.
    Marianne hatte jahrzehntelang nicht an ihren Vater denken können. Er fehlte ihr, vielleicht war das das einzige offene Geheimnis. Und ihr Versprechen, glücklich zu werden. Sich selbst zu verzaubern.
    »Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte der Psychologe und winkte der Ärztin, die Marianne in der vergangenen Nacht ins Krankenhaus gebracht hatte. Sie sprachen Französisch und sahen immer wieder zu Marianne herüber.
    Marianne trat ans Fenster und drehte sich so von den beiden weg, dass sie die kleine Fliese aus der Handtasche ziehen und betrachten konnte.
    Kerdruc. Als sie das Bild berührte, spürte sie ein so heftiges Ziehen in der Brust, dass sie kaum mehr atmen konnte.
    Suizid hat seinen Wert.
    Marianne sah wieder auf den Boden.
    Ich mag meine Schuhe wirklich nicht.
    Dann ging sie einfach los, stieß die nächste Schwingtür auf, fand eine Treppe, lief sie rasch hinunter und bog dann nach rechts ab. Sie kreuzte einen Flur, in dem Kranke matt auf Bänken saßen, und sah am Ende des Gangs eine weitgeöffnete Tür, die ins Freie führte. Luft! Endlich, das Gewitter hatte den Tag gewaschen, und die Luft war mild und sanft, und Marianne ignorierte die Arthroseschmerzen in ihrem Knie und begann zu laufen.
    Ihr Herz schlug hart im Gaumen, und sie lief über die gepflasterte Straße und in eine Gasse hinein; sie tauchte unter einem Torbogen hindurch, lief durch einen Innenhof und auf der anderen Seite wieder hinaus. Sie lief ohne nachzudenken immer abwechselnd von der einen Straßenseite zur anderen.
    Sie wusste
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher