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Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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Brackwasser.
    Sie ging auf das Waschbecken zu, das mitten im Raum angebracht war. Wussten die Architekten nicht, wie lächerlich es aussah, wenn eine Frau sich mitten im Zimmer stehend mit dem Waschlappen abreiben musste?
    Marianne tat es trotzdem. Als sie sich sauberer fühlte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um in den Spiegel zu sehen.
    Nein. Da war nichts Stolzes in diesem Gesicht. Nichts Würdiges.
    Ich bin jetzt älter, als meine Großmutter es überhaupt wurde. Ich habe immer gehofft, in mir wartet eine weise alte Frau. Sie wartet geduldig, sich von innen nach außen zu schälen. Erst erscheint der Körper, dann das Gesicht, zuletzt der Dutt, und in den Händen hält sie eine ofenwarme Form mit Käsekuchen.
    Marianne senkte den Blick. Keine weise Frau blickte sie da an, nur eine alte, mit dem faltigen Gesicht eines Mädchens, ein kleines Frauchen, nicht viel größer, als sie es mit vierzehn gewesen war. Und immer noch so pummelig.
    Sie lachte bitter auf.
    Ihre Großmutter Nane, die sie sehr verehrte, war in einer hellen Januarnacht 1961 gestorben. Sie war auf dem Rückweg vom Landgut der Von Haags, wo sie eine Hausgeburt begleitet hatte, ausgerutscht und in einen Wassergraben gefallen. Aus eigener Kraft hatte sie es nicht geschafft, wieder herauszukommen. Marianne hatte ihre tote Großmutter gefunden. In Nanes Gesicht war der Ausdruck von Ärger und Verwunderung über diese Dummheit festgefroren gewesen.
    Marianne spürte immer noch eine diffuse Schuld in sich: An dem Abend hatte sie ihrer Großmutter nicht wie sonst bei der Geburt assistiert, sie hatte sich gedrückt.
    Marianne betrachtete ihr Gesicht. Je länger sie sich ansah, desto schwerer fiel ihr das Atmen, Grauen erfüllte sie. Ihr ganzes Sein nahm das Grauen auf wie ein Garten den alles vernichtenden Regen.
    Was soll ich nur tun?
    Die Frau im Spiegel hatte keine Antwort; sie war bleich wie der Tod.

5
    D er Morgen kam schnell. Um kurz nach sechs wurden die Patienten geweckt, und nachdem Marianne sich angekleidet hatte, führte man sie in ein Büro im ersten Stock des Krankenhauses. Es sah so aus, als gehörte es einer Ärztin mit zwei Kindern – überall selbstgemalte Bilder, Fotos der Familie, eine Landkarte Frankreichs mit kleinen Fähnchenpins darin.
    Marianne stand auf und suchte Kerdruc, indem sie die Wasserkante des Landes mit den Fingern abfuhr; doch sie fand keinen Ort dieses Namens. Dafür entzifferte sie in der Legende die Abkürzungen der Departements – Fin. Es stand für Finistère, ein Stück Land im Westen Frankreichs, das in den Atlantik hineinragte – die Bretagne.
    Marianne drückte vorsichtig die Klinke der Bürotür hinunter, aber sie war verschlossen. Sie setzte sich hinter den Schreibtisch und starrte auf ihre Schuhspitzen.
    Nach einer Stunde erschien der Psychologe; ein schlanker, hochgewachsener Franzose mit welligem schwarzem Haar und einem zu intensiven Aftershave. Marianne fand, er sah furchtbar nervös aus, er kaute ständig auf seiner Unterlippe und warf ihr Blicke zu, die so schnell waren, dass sie sie kaum festhalten konnte.
    Er blätterte in den wenigen Seiten auf seinem Klemmbrett. Dann nahm er seine Brille ab, setzte sich halb auf die Schreibtischkante und sah Marianne erstmals aufmerksam an.
    »Der Suizid ist keine Krankheit«, begann er in stark französisch gefärbtem Deutsch.
    »Nicht«, erwiderte Marianne.
    »Nein. Er steht nur am Ende einer krankhaften Entwicklung. Er ist Ausdruck der Not. Sehr tiefer Not.« Seine Stimme war sanft, und er sah sie aus grauen Augen an, als würde er nur dafür leben, sie zu verstehen.
    Marianne spürte ein Kribbeln im Hals. Es war schon komisch. Da saß sie hier mit einem Mann, der den extravaganten Traum hütete, zu verstehen und helfen zu können, einfach so, nur indem er sie anschaute und wie ein Gesalbter sprach.
    »Und der Suizid ist auch zu akzeptieren. Er stellt einen Wert dar für den, der ihn sucht. Es ist nicht falsch, wenn Sie sich umbringen wollen.«
    »Und das ist wissenschaftlich erwiesen?«, entschlüpfte es ihr.
    Der Psychologe sah sie nur an.
    »Entschuldigung.«
    »Wieso entschuldigen Sie sich?«, fragte er dann.
    »Ich … weiß nicht.«
    »Wussten Sie, dass Menschen mit schweren Depressionen leicht zu kränken sind, sich jedoch ständig entschuldigen und ihre Aggressionen gegen sich statt den Auslöser richten?«
    Marianne sah den Mann an. Er musste Mitte vierzig sein, er trug einen Ehering am Finger. Wie gern hätte sie daran geglaubt, sich
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