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Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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willst. Als ob du überhaupt wüsstest, was du wolltest.«
    Lothar sah auf die Uhr. Eine Rolex. Dann stand er auf.
    »Der Bus geht um Punkt sechs Uhr. Dieser Zwangsspaß hier reicht mir.«
    »Und … wie komme ich nach Hause?« Marianne hörte ihre eigene bittende Stimme und schämte sich. Sie besaß wirklich nichts, nicht mal Stolz.
    »Den Rücktransport zahlt die Kasse. Morgen kommt ein Psychologe, der dich begleitet. Mein Ticket verfällt, wenn ich nicht mitfahre. Du springst allein von der Brücke, ich fahre allein nach Hause, so macht jeder, was er will. Hast du dagegen irgendwas einzuwenden?«
    »Könntest du mich in den Arm nehmen?«, flehte Marianne.
    Ihr Mann ging, ohne sie noch einmal anzusehen.
    Als sie den Kopf abwandte, begegnete sie dem Blick der Frau im Nebenbett. Sie betrachtete Marianne voller Mitleid.
    »Er ist schwerhörig«, erklärte Marianne ihr rasch, »er hat es … nur nicht gehört. Nicht gehört, verstehen Sie?« Dann zog sie sich die Decke über den Kopf.

4
    D er Engel mit den hungrigen Augen, Schwester Nicolette, hatte ihr nach einer Stunde energisch die Decke vom Kopf gezogen und ihr ein Tablett auf den Beitisch geknallt.
    Marianne hatte nichts von dem Essen angerührt. Es sah aus wie ein Stück eines totgetretenen Tiers, der glibberige Rand hatte nach muffigem Holz gerochen. Die Butter war steinhart gewesen, die Suppe dünn, mit drei Möhrenwürfeln und einem einzelnen Frühlingszwiebelring. Sie hatte die Suppe der Frau im Nachbarbett gegeben. Als diese Marianne über den Arm streichen wollte, war sie erschrocken zurückgewichen.
    Nun schob sie sich an ihrem Tropf auf Rollen vorwärts und hielt sich das kurze Klinikhemdchen zu, das über dem Hintern offen war. Ihre nackten Fußsohlen schmatzten, wenn sie sie vom Boden nahm. Sie ging den Flur hinunter, bis sie auf einen weiteren stieß, der quer zu ihrem Trakt verlief. An der Ecke befand sich das verglaste Schwesternzimmer.
    Ein kleiner Fernseher lief. Ein aufgeregter Nicolas Sarkozy erklärte der Nation seinen Unmut, eine Zigarette dampfte im Aschenbecher vor sich hin. Nicolette hörte Radio, blätterte in einer Zeitschrift und wickelte ein Törtchen aus.
    Marianne ging näher heran. Die Musik … Violinen. Akkordeon. Klarinetten. Ein Dudelsack. Marianne schloss die Augen, um ihren Film zu sehen.
    Sie sah Männer mit schönen Frauen tanzen. Marianne sah eine Tafel, Kinder und Apfelbäume, die Sonne, die ein Meer am Horizont beleuchtete, sie sah blaue Fensterläden an alten Sandsteinhäusern mit Reetdach und eine kleine Kapelle; die Männer hatten die Hüte nach hinten in den Nacken geschoben. Sie kannte das Lied nicht, doch sie hätte es gern gespielt. Die Klänge des Akkordeons schnitten ihr tief ins Herz.
    Sie hatte Akkordeon gespielt, erst mit einem kleinen und dann, als ihre Arme lang genug waren, mit einem großen. Ihr Vater hatte es ihr zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Ihre Mutter hasste es. »Lern nähen, das macht weniger Lärm.« Irgendwann hatte Lothar das Akkordeon auf den Sperrmüll getragen.
    Auf der Anzeigentafel glomm rhythmisch ein rotes Licht mit einer Zimmernummer auf.
    Nicolette sah genervt auf, erblickte Marianne und wandte sich dann gleichgültig von ihr ab.
    Marianne wartete, bis Nicolette verschwunden war. Dann betrat sie das Schwesternzimmer.
    Hungrig griff Marianne nach der Tüte Madeleines auf dem Tisch, einzeln verpackt; dabei stieß sie fast die bunte Fliese herunter, die als Untersetzer diente. Sie hörte, wie eine Tür geschlossen wurde, huschte auf den Flur und durch eine weitere Tür mit dem Symbol für »Treppenhaus«.
    Leise drückte sie die Tür hinter sich zu; beinahe blieb der Schlauch des Tropfs im Türspalt stecken.
    Marianne setzte sich auf die unterste Treppenstufe und atmete aus. Erst da merkte sie, dass sie immer noch die Törtchen und die Fliese unter dem Arm hielt. Sie lauschte, doch nichts war zu hören. Sie lehnte die Fliese gegen die vergitterte Fensterscheibe, hielt ihre nackten Zehen in das Mondlicht und wickelte das Gebäck aus der Tüte.
    So ist das also, dachte Marianne. So ist das also, in Paris zu sein.
    Sie biss in den süßen weichen Kuchen und betrachtete die kleine handbemalte Kachel.
    Schiffe, ein Hafen. Ein unendlich blauer Himmel, so reich und verschwenderisch strahlend, wie frisch gewaschen. Der Maler hatte auf kleinstem Raum einen großartigen Himmel erschaffen. Marianne versuchte, die Namen auf den Schiffen zu lesen.
    Marlin. Genever. Koakar.
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