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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Autoren: Julia Franck
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ganz Deutschland einer schweren Prüfung. In Peters Händen zitterte das Blatt, gewiss vom Beben des Bettes. Was Deutschland anbelange, so tue er sein Bestes. Sie frage, ob er nicht in einer der Werften arbeiten könne. Werften, gewiss, Sirenen heulten, nicht die von Schiffen, andere. Peters Augen tränten. Man brauche Ingenieure wie ihn dringend woanders. Ein Zischen ganz nah, wie vor dem Fenster, ein Krachen, ein zweites, noch lauter. Fertigstellung der Reichsautobahn, im Osten wenig zu tun. Wenig zu tun? Wieder hörte Peter das Rauschen, Brandgeruch kitzelte erst in seiner Nase, dann wurde es ein beißender, stechender Geruch, doch Peter lachte noch immer, ihm war, als könne ihm mit dem Brief seines Vaters in den Händen nichts passieren. Alice. Peters Mutter. Sie halte ihm vor, dass er so selten schreibe. Es qualmte, roch es nicht rauchig, knisterte ein Brand? Nichts mit ihrer Herkunft zu tun habe das. Nichts was, hat das und was, welche Herkunft, was schrieb dieser Vater da? Eine Anweisung mit Geld. Sollte das wirklich Anweisung heißen, und Ausweisung? Dinge geschähen, die etwas zwischen ihnen veränderten.
    Wie mühsam war es gewesen, diesen Brief zu entziffern. Hätte er besser lesen können, so gut wie heute, fast ein Jahr später und schon bald acht Jahre alt, hätte er vielleicht an den Schutz des Briefes glauben können, doch der Brief hatte versagt, Peter hatte ihn nicht zu Ende lesen können.
    Als er sich an diesem Morgen auf den Weg in den Milchladen des Lehrers Fuchs machte, war alles gut und er benötigte keinen Brief eines Vaters mehr für das Überstehen einer Nacht, nie mehr. Der Krieg war vorbei, heute wollten sie verschwinden, seine Mutter und er. Peter entdeckte im Rinnstein eine blecherne Dose und versetzte ihr einen Stoß. Wunderbar, wie sie schepperte und wie sie taumelte. Das Grauen würde zurückbleiben, hinter ihnen liegen, kein einziger Traum sollte mehr daran erinnern. Peter musste an die ersten Angriffe im Winter denken und wieder spürte er die Hand seines Freundes Robert, mit dem er einst über den niedrigen, weißlackierten Zaun entlang des Weges gehüpft war und die Straße vom Berliner Tor hatte überqueren wollen, um in den Graben vor dem Zeitungskiosk zu springen. Ihre Schuhe waren auf dem Eis gerutscht, sie waren geschliddert. Etwas musste seinen Freund getroffen und die Hand von seinem Körper getrennt haben. Doch Peter war die restlichen Meter weitergestürzt, allein, als habe ihn das Wegreißen des Freundes beschleunigt. Er hatte die Hand gespürt, fest und warm, und sie lange nicht losgelassen. Als ihm später aufgefallen war, dass er die Hand noch immer hielt, hatte er sie im Graben nicht einfach fallen lassen können, er hatte sie mit nach Hause genommen. Seine Mutter hatte ihm die Tür geöffnet. Sie hatte ihn aufgefordert, sich auf einen Stuhl zu setzen, und hatte ihm zugeredet, er möge seine Hand öffnen. Sie hatte sich vor ihn auf den Boden gehockt, in den Händen eine der weißen Stoffservietten mit ihren Initialen gehalten und gewartet, sie hatte seine Hände gestreichelt und geknetet, bis er losließ.
    Bis heute fragte sich Peter, was sie damit gemacht hatte. Er versetzte der Blechdose einen kräftigen Tritt, sodass sie hinüber auf die andere Straßenseite kullerte, fast bis zum Milchladen. Noch jetzt war es, als hielte er Roberts Hand, im nächsten Augenblick, als hielte diese ihn und beziehe sich sein Vater in dem Brief auf nichts anderes als auf dieses Ereignis. Dabei hatte er den Vater seit zwei Jahren nicht mehr gesehen und ihm nie von der Hand erzählen können.
    Im vergangenen Sommer dann, in der Bombennacht vom August, als Peter den Brief des Vaters gelesen hatte, hatte er bald nur noch jeden dritten oder vierten Satz entziffern können. Der Brief hatte nicht geholfen. Die Hände hatten gezittert. Der Vater wolle die Mutter seines Sohnes ehren, er wolle aufrichtig sein, er habe eine Frau kennengelernt. Auf der Treppe waren Schritte zu hören, wieder ein Rauschen, so dicht, dass es für den Bruchteil einer Sekunde die Ohren verschloss, dann ein Krachen und ein Schreien. Peter überflog hastig die Zeilen. Sie sollten tapfer bleiben, der Krieg werde mit Sicherheit bald gewonnen. Er, der Vater, werde in nächster Zeit wohl nicht mehr kommen können, das Leben eines Mannes verlange Entscheidungen, aber er schicke bald wieder etwas Geld. Peter hatte ein Poltern an der Wohnungstür gehört, es war schwer zu sagen, ob das Jaulen von einem Geschoss, einer Sirene
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