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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Autoren: Julia Franck
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Krankenhaus war man über jeden Fisch froh, und im Frühjahr hatte die Mutter Peter einen Maifisch mit nach Hause gebracht. Als sie am Uferkai anlangten, hatte die Fischfrau längst ihre Kiste auf den kleinen Holzwagen gestellt, der Schirm lag quer darüber. In der Hitze des Sommertages roch es nach Teer und Fisch. Zwischen den Trümmern des Fischbollwerks lebten Katzen, Peter beobachtete, wie ein magerer Kater am Ufer entlanglief, er schwankte leicht und sprang mit einem Satz auf den kleinen Holzsteg. Wo noch im vorletzten Jahr die breiten und behäbigen Quatzen dicht an dicht mit den Fischdreweln schaukelten, lag nun kein einziges Boot mehr. Der Kater langte mit einer Tatze ins Wasser, wieder und wieder zuckte sein Kopf zurück, als erschrecke ihn etwas. War da ein Fisch oder war da keiner? Die Mutter öffnete ihre Handtasche und brachte Scheine zum Vorschein. Das schulde sie ihr. Die Fischfrau strich ihre Hände an der Schürze ab, Tausende von Schuppen blitzten dort, dass es wie ein Gewand aussah, das Gewand einer Meerjungfrau, sie nahm die Scheine und dankte. Dann fiel ihr Blick auf den Koffer, und als die Mutter ihr die Hand reichte, sagte sie: Eine gute Reise. Die Lippen der Fischfrau waren fast unversehrt, fleischig, roh und jung sahen sie aus, ihre Stimme perlte, als ob sie gleich kichern wollte. Sie hatte keine Brauen mehr, die Wimpern waren nur wenig nachgewachsen, Peter mochte es, wie sie sich zur Seite drehte und ihre Augen niederschlug, aus Verlegenheit sagte sie etwas wie: Na dann, viel Glück, und Peter glaubte, dass sie ihn ansah und meinte. Er stellte sich dicht neben seine Mutter, er lehnte seinen Kopf gegen ihren Arm, ließ seine Nase wie zufällig über ihre Armbeuge streichen, bis die Mutter einen Schritt zur Seite machte und den Koffer in die andere Hand nahm.
    Zum Bahnhof gingen sie im Laufschritt. Doch schon auf der Treppe hinunter zum Bahnhof kam ihnen eine dickbäuchige Schwester in Tracht entgegen, offenbar eine Kollegin der Mutter, die sagte, die Sonderzüge kämen nicht nach Stettin rein, sie müssten hinaus nach Scheune, zur nächsten Station laufen, dort würden die Züge fahren.
    Sie liefen zwischen den Gleisen entlang. Die Schwester geriet leicht außer Atem. Sie drängte sich neben die Mutter, und Peter lief hinterher, er wollte verstehen, was sie redeten. Die Schwester sagte, sie habe kein Auge zutun können, immerfort denke sie an die Leichen, die sie nachts im Hof des Krankenhauses gefunden hätten. Peters Mutter schwieg. Vom Besuch der Soldaten sagte sie nichts. Die Kollegin schluchzte, sie bewundere Peters Mutter für ihren Einsatz, und das, wo doch jeder wisse, nun, dass mit ihrer Abstammung was nicht stimme. Die Schwester legte eine Hand auf ihren gewölbten Bauch, sie schnaufte, darüber wolle sie jetzt aber nicht sprechen. Wer habe schließlich diesen Mut? Niemals hätte sie selbst einen der Pfähle anpacken und aus dem Leib einer Frau ziehen können, aufgespießt wie Tiere, der ganze Unterleib zerfetzt. Die Kollegin blieb stehen und stützte sich mit ihrem schweren Leib auf die Schulter von Peters Mutter, sie atmete tief, ständig habe die Überlebende nach ihrer Tochter gerufen, die doch längst neben ihr verblutet gewesen war. Peters Mutter blieb stehen und sagte schroff zu der Schwester, sie solle schweigen. Um Himmels willen. Schweigen.
    In Scheune war der schmale Bahnsteig von Wartenden überfüllt. Die Menschen saßen in Gruppen auf dem Boden und beobachteten misstrauisch die Neuankömmlinge.
    Schwester Alice! Der Ruf drang aus einer Gruppe auf dem Boden sitzender Menschen, zwei Frauen ruderten mit den Armen. Peters Mutter folgte dem Ruf der Frau, die sie offenbar erkannt hatte. Sie hockte sich neben die Sitzenden. Peter ließ sich neben seiner Mutter nieder, die Schwangere folgte ihnen, blieb aber unschlüssig stehen. Sie trat von einem Bein auf das andere. Die Frauen tuschelten, und zwei Frauen und ein Mann verschwanden mit der Schwangeren. Wenn eine Frau pinkeln musste, wurde sie nach Möglichkeit von mehreren begleitet, die Leute erzählten sich, dass hinter den Büschen der Iwan lauere und über die Frauen herfalle.
    Es sollte noch mehrere Stunden dauern, bis ein Zug kam. Die Menschen drängten sich an den Zug, noch ehe er zum Stehen kam, sie versuchten Griffe und Geländer zu packen. Fast sah es aus, als brächten die vielen Menschen den Zug zum Stehen, als wären sie es, die ihn anhielten. Der Zug schien nicht genügend Türen zu haben. Arme ruderten, Füße
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