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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Autoren: Julia Franck
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oder einem Menschen stammte. Er hatte den Brief zusammengefaltet und ihn zurück unter das Kopfkissen geschoben. Er zitterte. Der Rauch ließ seine Augen tränen, und in warmen Wellen näherte sich die Glut der Stadt.
    Jemand packte ihn und trug ihn auf den Schultern die Treppe hinunter bis in den Keller. Als er Stunden später mit den anderen ins Freie kroch, war es hell draußen. Die Treppe hinauf zur Wohnung stand noch, lediglich das Geländer war geborsten und lag in Balken quer auf den Stufen. Es qualmte. Auf allen vieren erklomm Peter die Treppe, er musste über etwas Schwar zes klettern, dann stieß er die Wohnungstür auf und setzte sich an den Küchentisch. Die Sonne schien geradewegs auf das Holz, er musste die Augen schließen, so hell war es. Er hatte Durst. Lange Zeit fühlte er sich zu schwach, um aufzustehen und zum Spülbecken zu gehen. Als er den Wasserhahn aufdrehte, hörte er nur ein Röcheln, kein Wasser kam. Es konnte Stunden dauern, bis seine Mutter zurückkehrte. Peter wartete. Den Kopf auf dem Tisch schlief er ein. Seine Mutter weckte ihn. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und presste ihn gegen ihren Bauch, und erst, als auch er seine Arme um sie schlang, ließ sie locker. Die Wohnungstür stand offen. Im Treppenflur sah Peter das Schwarze. Er dachte an das Schreien aus der vergangenen Nacht. Die Mutter riss einen Schrank auf, lud sich Laken und Handtücher über die Schulter, griff nach den Kerzen in der Schublade und sagte, sie müsse sofort wieder hinaus. Peter solle ihr tragen helfen, Verbände fehlten und Alkohol zur Desinfektion. Sie stiegen über das verkohlte Fleisch vor ihrer Wohnungstür, eher an den Schuhen erkannte Peter, dass es sich um einen Menschen handelte, geschrumpft war der Mensch, und Peter entdeckte eine dicke, goldene Taschenuhr. Fast ein Glücksgefühl war es, das ihn an jenem Morgen durchströmt hatte, denn die Uhr konnte unmöglich zu Frau Kozinska gehört haben.
    Die Fotografie von dem stattlichen Mann im feinen Anzug, der sich mit einem Arm, würdevoll angewinkelt, auf eine schwarz glänzende Karosserie stützte und mit hellen Augen gen Himmel blickte, als schaue er dem Schicksal entgegen, zumindest aber einigen Vögeln nach, stand noch immer gerahmt auf der Vitrine in der Küche. Peters Mutter behauptete, jetzt, wo der Krieg vorbei sei, werde der Vater kommen und sie nach Frankfurt holen. Dort baue der Vater eine große Brücke über den Main. Peter könne dann in eine richtige Schule gehen, das sagte die Mutter, und es war Peter unangenehm, sie so lügen zu hören. Warum schreibt er nicht, fragte Peter in einem Augenblick des Aufbegehrens. Die Post, antwortete seine Mutter, nichts mehr funktioniert, seit die Russen da sind. Peter schlug die Augen nieder, er schämte sich für seine Frage. Von nun an wartete er gemeinsam mit seiner Mutter, Tag für Tag. Es war ja möglich, dass der Vater es sich anders überlegte.
    Eines Abends, als Peters Mutter im Krankenhaus arbeiten gewesen war, hatte er unter ihrem Kopfkissen nachgesehen. Er hatte sich vergewissern wollen. Der Brief war verschwunden. Mit einem spitzen Messer hatte Peter den Sekretär der Mutter geöffnet, aber dort nur Papier und Umschläge und einige Marken gefunden, die sie in einer kleinen Schachtel aufbewahrte. Peter hatte den Kleiderschrank seiner Mutter durchsucht, er hatte ihre geplätteten, ordentlich gefalteten Schürzen und ihre Unterwäsche angehoben. Zwei Briefe lagen da, von ihrer Schwester Elsa, die Briefe kamen aus Bautzen. Elsa hatte eine so krakelige Schrift, dass Peter nur die Anrede lesen konnte: Meine kleine Alice. Keinen einzigen Brief des Vaters hatte Peter mehr finden können.
    Als Peter an diesem Morgen in den Milchladen trat, waren der Lehrer Fuchs und seine Schwester fort. Die Kinder warteten vergeblich, sie sahen den anderen Menschen zu, die in den Milchladen kamen, erst zögerlich, dann stürmisch, und alle Schränke öffneten. Kisten, Zuber und Kannen wurden untersucht. Die Leute schimpften und fluchten, kein Tropfen saure Sahne, kein einziges Stück Butter war mehr da. Eine ältere Frau trat gegen den Schrank, so dass eine Tür herausbrach.
    Kaum hatte der letzte Erwachsene den Laden verlassen, kniete sich der älteste Junge auf den Boden, geschickt hob er eine der Fliesen an, und darunter befand sich ein kühles Versteck. Ein Junge pfiff, und die Mädchen nickten voller Anerkennung. Aber das Versteck war leer. Was immer darin gelegen haben mochte, Butter oder Geld, es war
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