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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Autoren: Julia Franck
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Waschbecken und trocknete mit dem Handtuch seine Schultern ab, seinen Bauch, sein Geschlecht, die Füße. Wenn er die Reihenfolge vertauschte, was schon lange nicht mehr vorgekommen war, verlor die Mutter ihre Geduld. Sie hatte ihm eine saubere Hose und das beste Hemd hingelegt. Peter ging zum Fenster, er klopfte gegen die Scheibe, und die Möwe flatterte auf. Seit die gegenüberliegende Häuserreihe und die Hinterhäuser und auch der nächste Straßenzug fehlten, hatte er freien Blick auf den Königsplatz, dorthin, wo die Reste des Theaters standen.
    Komm nicht zu spät nach Hause, sagte seine Mutter, als er zur Wohnungstür hinauswollte. Nachts habe im Krankenhaus eine Schwester erzählt, heute und morgen würden Sonderzüge eingesetzt. Wir verschwinden. Peter nickte, seit Wochen freute er sich darauf, endlich mit einem Zug zu fahren. Nur einmal vor zwei Jahren, als Peter eingeschult worden war und sein Vater sie besucht hatte, waren sie mit dem Zug gefahren, sein Vater und er, sie hatten einen Arbeitskollegen des Vaters in Velten besucht. Der Krieg war jetzt acht Wochen aus, und der Vater kehrte nicht heim. Peter hätte seine Mutter gerne gefragt, warum sie nicht mehr länger auf den Vater warten wollte, er wäre gern ihr Vertrauter geworden.
    Im letzten Sommer, in der Nacht zum 17.August, war Peter allein in der Wohnung gewesen. Seine Mutter hatte in diesen Monaten häufig zwei Schichten hintereinander gemacht, sie war von der Spätschicht zur Nachtschicht im Krankenhaus geblieben. Immer, wenn sie nicht da war, fürchtete sich Peter vor der Hand, die bei Dunkelheit unter dem Bett hervorkommen würde, aus der Ritze zwischen Mauerwerk und Laken. Er fühlte das Metall seines Klappmessers am Bein und stellte sich wieder und wieder vor, wie schnell er es zücken müsste, wenn die Hand erschiene. In dieser Nacht hatte sich Peter bäuchlings auf das Bett seiner Mutter gelegt und gelauscht wie in jeder Nacht. Besser, man lag genau in der Mitte des Bettes, so war zu jeder Seite genügend Platz, um die Hand rechtzeitig zu entdecken. Er musste zustoßen, schnell und fest. Peter schwitzte, wenn er sich vorstellte, dass die Hand erschiene und er von Angst gelähmt nicht in der Lage wäre, das Messer gegen sie zu erheben.
    Peter wusste noch genau, wie er mit beiden Händen, von denen die eine zugleich das Messer umklammerte, den Samt der schweren Überdecke genommen hatte und seine Wange an dem Stoff rieb. Klein, fast zart, hob der erste Sirenenton an, dann gellte er auf, wurde hochgezogen zu einem langen, durchdringenden Jaulen. Peter schloss die Augen. Der Ton ließ die Ohren glühen. Peter mochte Keller nicht. Stille. Immer wieder ersann er neue Strategien, die Keller zu meiden. Der Sirenenton schwoll wieder. Das Herz klopfte, und zu eng schien ihm sein Hals. Alles an ihm wurde steif und starr. Er musste tief atmen. Gänsedaunen. Peter presste die Nase in das Kopfkissen seiner Mutter und sog ihren Geruch auf, als könne er satt werden davon. Dann war es still. Eine mächtige Stille, Peter hob den Kopf und hörte seine Zähne klappern, er versuchte, die Kiefer geschlossen zu halten, biss die Zähne mit aller Kraft zusammen, senkte den Kopf wieder und drückte das Gesicht in die Daunen.
    Während er sein Gesicht an dem Kissen rieb, den Kopf dabei hin und her wiegen musste, knisterte etwas darunter. Vorsichtig fuhr er mit der Hand unter das Kissen und die Fingerspitzen tasteten Papier. Im selben Augenblick belegte ein unheimliches Rauschen seine Ohren, das Rauschen des ersten Abwurfs, Peters Atem ging schneller, es krachte und splitterte, Glas hielt dem Druck nicht stand, die Fensterscheiben barsten, das Bett, auf dem er lag, bebte, und Peter hatte plötzlich das Gefühl, jedes Ding um ihn herum lebe mehr als er selbst. Stille folgte. Den äußeren Ereignissen zum Trotz zog er mit der freien Hand einen Brief hervor. Peter erkannte die Schrift. Wie irre musste Peter lachen, ach, sein Vater, ach, der war ihm ganz entfallen, wo der ihn doch immer beschützen wollte. Da war seine Schrift, hier, sein M für Meine, für Alice das A. Unerschütterlich standen die Buchstaben, einer am anderen, nichts konnte ihnen etwas anhaben, keine Sirene, keine Bombe, kein Feuer, zärtlich lachte Peter ihnen zu. Die Augen brannten, und die Schrift drohte zu verschwimmen. Etwas bedauerte der Vater. Peter musste lesen, den Brief des Beschützers, er musste lesen, was da geschrieben stand, solange er las, geschah ihm nichts. Das Schicksal unterziehe
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