Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mestizin

Die Mestizin

Titel: Die Mestizin
Autoren: César Aira
Vom Netzwerk:
herablassen würde, eine zu nehmen.»
    «Wenn das so ist… dann werden nicht viele überleben. Ständig werden Gefangenentransporte nach Pringles gebracht, in den zehn Jahren seit Bestehen des Forts haben wir einen pro Jahr gezählt, ein jeder mit über tausend Gefangenen – und heute zählt Pringles nicht mehr als dreihundert weiße Bewohner! Gewiss, das sind alles Geschöpfe, denen die Gesellschaft definitiv den Rücken zugekehrt hat und die sie nicht mehr sehen will… Aber wieso sollte man sie in einen so schnellen und unproduktiven Tod schicken, wo es doch viel leichter wäre, sie arbeiten oder dienen zu lassen? Eine weitere der vielen sonstigen Launen unserer schwachköpfigen Regierung. Hast du irgendein Anzeichen von Veränderung bemerkt?», fragte er den Neffen, von dem er wusste, dass er gute Beziehungen zu Mitgliedern des Generalstabs unterhielt.
    «Nicht das geringste. Ich denke, es herrscht vielmehr die gegenteilige Meinung vor. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Strafmaßnahme der Verbannung auch auf andere, noch geringere Vergehen ausdehnen würden.»
    «Desertieren denn viele?»
    Der Oberst antwortete ihm lieber mit einer bildhaften Wendung:
    «Ab einem gewissen Grenzpunkt (Sie müssen sich daran gewöhnen, hier ist immer von Grenzpunkten und Grenzen die Rede) ist alles Desertion, denn schließlich befindet sich niemand an seinem rechten Platz.»
    Nach den Schokorollen mit Eiscreme erhoben sie sich und gingen zum Kaffeetrinken in die Bibliothek des Obersts. Sie befanden sich in seinen Privatgemächern, in denen er sie, aufgrund seiner Verwandtschaft mit Lavalle und als besonderes Zeichen der Ehrerbietung gegenüber dem ausländischen Gast, fürstlich hatte bewirten wollen. Die Wände voll gebundener Bücher, ein paar alte Ölbilder mit Jagdszenen, die Ledersessel und das gedämpfte Licht schufen eine außergewöhnliche englische Clubatmosphäre. Der Kaffee war gut, stark und aromatisch, aber es überraschte Duval nicht, dass alle es vorzogen, sich immer wieder beim Cognac zu bedienen.
    Der Oberst wies ihm einen Sitzplatz neben seinem Sessel an.
    «Vielleicht haben wir Ihnen mit unserem Geplauder etwas Angst gemacht», sagte er in vertraulichem Ton zu ihm, «aber Sie dürfen uns nicht ernst nehmen. Wir langweilen uns und vertreiben uns die Zeit mit Klatsch, insofern ist es höchst wahrscheinlich, dass wir übertrieben haben. In Pringles werden Sie trotz alledem gewisse Bequemlichkeiten antreffen, die das Leben angenehm machen. Alles ist so dekadent… Sie können über so viele Bedienstete verfügen, wie Sie wollen, und über viel Freizeit, ganz gleich, was Ihre Arbeit ist.» Er bekam einen verträumten Gesichtsausdruck. «Und ich versichere Ihnen, Nichtstun ist in Pringles eine feine Sache: es ist schon acht Jahre her, seit ich zum ersten und letzten Mal dort gewesen bin, und es wird mir ewig im Gedächtnis bleiben, der paradiesische Wald, Pillahuinco… Ich denke, auf der ganzen Welt lässt sich keine so schöne Gegend finden. Là, tout n’est qu’ordre, beauté, luxe, calme et volupté», schloss er und beschrieb einen Bogen mit der Zigarre.
    Der junge Ingenieur antwortete nichts darauf und wusste auch nicht, was er denken sollte. Als er sich vor Mitternacht zurückzog, stellte er fest, dass sie ihm das Bett mit Satinbettwäsche bezogen hatten. Er fand nur schwer Schlaf, mit einem Dach überm Kopf und in einem Bett, und erwachte im Morgengrauen, obwohl nicht der geringste Laut zu hören war.
    Sie blieben den ganzen Tag und die folgende Nacht in Azul und luden die Vorräte für die dreißig Reisetage auf, die ihnen noch bevorstanden. Die Truppe blieb in dem Lager, das sie eine Meile vor dem Fort aufgeschlagen hatte, und von morgens bis abends herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Neugierigen auf Pferden oder in Kaleschen, die mit eigenen Augen die Gefangenen auf dem Weg zur Grenze sehen wollten. Aber der Anblick dieser menschlichen Wracks war enttäuschend, denn etliche Monate in Ketten hatten dazu geführt, dass sie nur noch Haut und Knochen waren.
    Der Franzose aß in Gesellschaft des Obersts zu Mittag, diesmal sie beide allein, abgesehen von den lästigen Soldaten, die ihnen, mit weißen und zarten Händen, erdfarbene Waldschnepfen und Püree auftrugen. Sein Blick wurde von zwei identischen Darstellungen auf der boiserie gefangen genommen, die sich über der kleinen Glatze des Obersts befand, auch wenn er sich nicht genug zu konzentrieren vermochte, um sagen zu können, was sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher