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Die Menschenleserin

Die Menschenleserin

Titel: Die Menschenleserin
Autoren: Jeffery Deaver
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überholen. Daraufhin habe er sich an diese alte Sache erinnert und fürchte nun, die Beweise könnten entdeckt werden. Der andere Häftling sollte sie finden und beseitigen.
    Aber Pell hatte sich den Falschen ausgesucht. Der Mann verriet ihn an die Gefängnisdirektorin, und die wiederum verständigte das Monterey County Sheriff’s Office. Die Ermittler fragten sich, ob Pell die unaufgeklärte Ermordung des Farmeigentümers Robert Herron meinte, der vor zehn Jahren erschlagen worden war. Das Tatwerkzeug, mutmaßlich ein Klauenhammer, konnte nie gefunden werden. Nun ließ die Polizei alle Brunnenschächte in dem betreffenden Stadtteil absuchen. Und tatsächlich – man fand ein zerlumptes T-Shirt, eine leere Brieftasche mit den eingeprägten Initialen R. H. und einen Klauenhammer. Zwei Fingerabdrücke auf dem Hammer stammten von Daniel Pell.
    Die Staatsanwaltschaft von Monterey County beschloss, den Fall zwecks Anklageerhebung einer Grand Jury in Salinas vorzulegen, und bat die CBI-Agentin Kathryn Dance, den Verdächtigen zu verhören und ihm möglichst ein Geständnis zu entlocken.
    »Wie lange haben Sie in der Nähe von Monterey gewohnt?«, fragte Dance nun.
    Er schien überrascht zu sein, dass sie nicht von vornherein versuchte, ihn unter Druck zu setzen. »Ein paar Jahre.«
    »Wo genau?«
    »In Seaside.« Eine Stadt mit ungefähr dreißigtausend Einwohnern, hauptsächlich junge Arbeiterfamilien und Ruheständler, nördlich von Monterey am Highway 1 gelegen. »Da hat man mehr für sein schwer verdientes Geld bekommen«, erklärte Pell. »Nicht so wie in Ihrem feinen Carmel.« Er sah ihr ins Gesicht.
    Grammatik und Satzbau waren gut, registrierte sie, ohne auf seinen Versuch einzugehen, ihren Wohnort in Erfahrung zu bringen.
    Dance stellte ihm noch einige Fragen über sein Leben in Seaside und im Gefängnis und ließ ihn dabei nicht aus den Augen: wie er sich benahm, wenn sie die Fragen stellte, und wie er sich benahm, wenn er antwortete. Sie war nicht auf den Inhalt der Antworten aus – sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht und kannte diese Fakten bereits -, sondern sie verschaffte sich einen grundlegenden Eindruck von seinem Verhalten.
    Um Lügen zu enttarnen, berücksichtigen Verhörspezialisten drei Faktoren: das nonverbale Verhalten (die Körpersprache respektive Kinesik), die verbale Qualität (die Tonlage einer Stimme oder das kurze Zögern vor den Antworten) und den verbalen Inhalt (das Gesagte). Die ersten beiden Faktoren sind bei weitem verlässlichere Indikatoren für einen Täuschungsversuch, weil wir viel einfacher kontrollieren können, was wir sagen, als wie wir es sagen oder wie unser Körper derweil reagiert.
    Der Ersteindruck des Vernehmungsbeamten basiert stets auf dem Verhalten des Verdächtigen bei wahrheitsgemäßen Aussagen. Diesen Standard vergleicht er später mit dem Benehmen des Befragten, wenn dieser Anlass zu einer Lüge haben könnte. Falls Unterschiede auftreten, deutet das auf eine Irreführung hin.
    Nach einer Weile hatte Dance ein gutes Profil des aufrichtigen Daniel Pell vorliegen und wandte sich in diesem modernen, sterilen Gerichtsgebäude an einem nebligen Junimorgen dem schwierigen Teil ihrer Aufgabe zu. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen über Robert Herron stellen.«
    Er sah ihr kurz in die Augen und präzisierte seine Untersuchung: die Halskette mit dem Schneckenhaus, die ihre Mutter angefertigt hatte. Dann Dances kurze, rosa lackierte Fingernägel. Der graue Perlenring an ihrem linken Ringfinger erhielt zwei Blicke.
    »Wo haben Sie im Januar 1996 gewohnt?«
    »In Monterey.«
    »In welcher Straße?«
    Er schürzte die Lippen. »Weiß ich nicht mehr. Im Norden der Stadt, glaube ich.«
    Interessant. Wer eine Täuschung versucht, vermeidet es meistens, konkrete und überprüfbare Angaben zu machen, die später vor Gericht zudem gegen den Beklagten verwendet werden können, falls er dort eine abweichende Aussage zu Protokoll gibt. Und es war ungewöhnlich, dass jemand sich nicht an seine frühere Adresse erinnerte. Wie dem auch sei, seine kinesische Reaktion war unverdächtig.
    »Wie haben Sie Robert Herron kennengelernt?«
    »Das unterstellen Sie mir zwar, aber nein, ich habe ihn im ganzen Leben nie getroffen. Ich schwöre.«
    Der letzte Satz war typisch für eine versuchte Irreführung, doch auch jetzt ließ Pells Körpersprache nicht erkennen, ob er log.
    »Aber Sie haben den Häftling in Capitola gebeten, er solle den Hammer und die Brieftasche aus dem Brunnenschacht
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