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Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Die Mechanik des Herzens: Roman (German Edition)
Autoren: Mathias Malzieu
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brennt wie Feuer, ich bin nicht mehr ich selbst. Alle drei Sekunden wird mein Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt. Joe wirft einen triumphierenden Blick in die Menge.
    »Du willst also nach Andalusien«, zischt er mit zusammengepressten Kiefern.
    »Ja! Ich fahre noch heute los!«
    Meine Augen werden zu Schlitzen, meine Stimme stahlklingen scharf, meine Bewegungen schnell und abgehackt. Ich verwandle mich in eine menschliche Heckenschere, die dieses bösartige Baumgerippe zerschneiden will.
    Joe nähert seine Nase meiner Uhr und ahmt einen Hund nach, der an einem Scheißhaufen schnüffelt. Der Schulhof brüllt vor Lachen. Jetzt reicht’s! Ich packe Joe am Nacken und ziehe sein Gesicht mit aller Kraft an meine Brust. Sein Kopf kracht gegen das Holzgehäuse meiner Uhr. Ich donnere seinen Schädel noch ein zweites und drittes Mal mit voller Wucht gegen meine Kuckucksuhr. Plötzlich ist alles ganz ruhig. Die Zeit scheint stillzustehen. Ich hätte gern ein Foto von diesem Moment. Dann zerreißen die ersten Schreie der Schaulustigen die Stille, und kleine Bluttropfen spritzen auf die makellos gebügelten Kleider der Schleimer in der ersten Reihe. Mein Stundenzeiger hat Joes rechtes Auge durchbohrt, und eine rote Fontäne schießt aus seinem Gesicht. Mit dem linken Auge, in dem sich sein ganzes Grauen konzentriert, starrt er auf den hellroten Blutstrahl. Er jault auf wie ein Schoßhündchen, dem jemand auf die Pfote getreten ist, und hält sich die Hand vors durchstochene Auge. Blut sprudelt zwischen seinen Fingern hervor. Dann sackt er zu Boden. Ich empfinde nicht das geringste Mitleid. Gespenstische Stille liegt plötzlich über dem Schulhof. Niemand wagt mehr einen Mucks.
    Die Zahnräder meiner Uhr glühen rot, sie sind so heiß, dass man sich an ihnen die Finger verbrennen würde. Joe rührt sich nicht. Ist er tot? Ich wollte doch nur, dass er aufhört, auf meinen Träumen herumzutrampeln, ich wollte ihn nicht gleich umbringen. Panik steigt in mir auf. Der Himmel färbt sich tiefrot. Die Schüler um uns herum sind zu Statuen erstarrt. Ich habe Angst, Joe getötet zu haben. Ich habe tatsächlich Angst, dass er stirbt. Wer hätte das gedacht?
    Ich suche mein Heil in der Flucht und renne los, quer über den Schulhof. Mir ist, als wäre mir die ganze Welt auf den Fersen. Ich klettere am Pfosten des überdachten Pausenhofs hoch und gelange von dort auf das Schuldach. Das Wissen um meine Tat lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Mein Herz ächzt und stöhnt wie an jenem schicksalsträchtigen Tag vor einigen Jahren, als mich beim Anblick der kleinen Sängerin ein rosa Blitz traf. Vom Schuldach aus sehe ich den Gipfel des Bergs, der unheilvoll aus dem Nebel ragt. Ach, Madeleine, du wirst so wütend sein …
    Ein Schwarm Zugvögel hängt bewegungslos über mir in der Luft – es sieht so aus, als säßen die Vögel auf einem unsichtbaren Regal hoch in den Wolken. Am liebsten würde ich mich an ihre Füße klammern und die Welt weit unter mir lassen. All meine Herzensnöte würden sich in Luft auflösen! He, Vögel, nehmt mich mit, und setzt mich in den Armen meiner Andalusierin ab!
    Doch die Vögel sind unerreichbar, wie die Schokolade ganz oben auf dem Küchenregal oder die Gläser mit Tränenschnaps im Keller oder mein Traum von der kleinen Sängerin – vor allem, weil Joe wie ein unüberwindliches Hindernis vor mir aufragt. Sollte ich ihn getötet haben, stecke ich ernsthaft in der Klemme.
    Meine Uhr tut höllisch weh, der Schmerz wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Madeleine, du wirst viel zu tun haben. Ich muss versuchen, die Zeit zurückzudrehen. Ich nehme den Stundenzeiger, der noch warm von Joes Blut ist, zwischen die Finger und drehe ihn mit einem Ruck gegen den Uhrzeigersinn. Meine Zahnräder knirschen, der Schmerz ist schier unerträglich. Doch nichts geschieht. Vom Hof dringen Schreie zu mir hoch. Ich werfe einen Blick über die Dachrinne und sehe, wie Joe sich die Hände auf das rechte Auge presst. Es beruhigt mich ein wenig, wieder sein Schoßhündchenwimmern zu hören.
    Ein Lehrer mischt sich ein, ich höre, wie die Schüler mich verpetzen. Dann suchen alle Augenpaare den Schulhof nach mir ab, wie kleine Radare. Panisch rutsche ich das Dach hinunter und springe in den erstbesten Baum. Ich schürfe mir die Hände an den Ästen auf und stürze zu Boden. Das Adrenalin verleiht mir Flügel, meine Beine hatten es noch nie so eilig, mich hoch auf den Berg zu tragen.
    »Wie war’s in der Schule? Alles
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