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Die Masken der Wahrheit

Die Masken der Wahrheit

Titel: Die Masken der Wahrheit
Autoren: Barry Unsworth
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doch nun trat eine schreckliche Pause ein. Martin musterte Stephen mit festem Blick, den dieser erwiderte. Dann trat Springer vor, der Knabe, noch ehe einer der Männer etwas sagen konnte. Wenngleich der jüngste von allen, war Springer stets ein Friedensstifter, einer jener Seligen, die dereinst Kinder Gottes heißen werden. »Brendan hat mich gelehrt, auf Stelzen zu gehen und Purzelbäume zu schlagen und die Frau zu spielen «, sagte er. »Wir werden ihn nicht in einem Graben zurücklassen, denn unsere Hoffnung ist in Christus, ihr treuen und redlichen Leute.« Und um uns aufzuheitern, wand er sich die herabbaumelnden Stücke seines Schals um die Schultern und machte Gesten wie eine Frau, die eitel ob ihrer langen Haare ist.
       »Wißt ihr noch, wie er mit krummen Knien herumhüpfte?« sagte Tobias. »Er hat so kurze Schritte gemacht, als würde er jeden Augenblick hinfallen.«
       »Doch er fiel niemals hin, es sei denn mit Absicht«, sagte Martin. Seine Gefühlsaufwallung hatte sich gelegt, da er jetzt spürte, daß die anderen sich seinem Willen beugen würden. Und er sprach direkt zu mir, schloß mich mit ein in diese Erinnerungen an Brendan. Ich war dankbar; Martin besaß ein gütiges Wesen, das ihn aufmerksam für andere Menschen machte, solange seine Gefühle nicht gestört oder verletzt wurden. »Er trug die Kappe mit den Schellen und den Eselsohren und eine Halbmaske«, sagte er. »Manchmal auch eine Maske mit vier Hörnern, wie die eines Juden.«
       Der, den sie Straw nannten, lachte plötzlich – das gleiche schluchzende Lachen, das ich schon einmal von ihm gehört hatte – und schlug sich mit den offenen Handflächen auf die Knie. »Und er hat des Teufels Bier gestohlen und es sich über den Schoß geschüttet, weil er’s gar nicht schnell genug in sich hineinkippen konnte«, sagte er. »Und dann ist er mit zusammengepreßten Knien dahingeschlurft, und das Bier tropfte auf den Boden, während der Teufel hin und her sauste und überall nach seinem Krug suchte.«
       »Es sah aus, als hätte Brendan sich in die Hose gepißt«, sagte Springer sacht.
       »Würd’s euch etwas ausmachen, das Lied zu singen, mit dem er den Teufel getröstet hat?« fragte Stephen. Er sprach zu Martin, und ich erkannte, daß sein Stolz diesen Weg zum Frieden entdeckt hatte. »Brendan hat seine eigenen Lieder gemacht«, sagte er. »Er hat sie selbst gedichtet. Als der Teufel traurig war, weil Eva den Apfel zuerst nicht nehmen wollte, sang Brendan ein eigenes Lied, um des Teufels Stimmung zu heben. ›Wenn all die Welt mein eigen wär’‹, so hieß das Lied.«
       Springer griff nach seiner Rohrflöte und spielte die Weise, und einer nach dem anderen fiel ein, und dann sangen sie alle zusammen und schauten einander in die Gesichter, während sie in dem kalten Wetter zwischen den kahlen Bäumen standen: 
»Wenn all die Welt mein eigen wär’, 
    So richtete den Weg ich her, 
    Von den Hügeln bis zum Meer, 
    Daß Narren darauf reiten …«
    So trauerten sie um Brendan mit seinem eigenen Lied und waren wieder in Harmonie vereint. Ich sehe sie jetzt wieder, ihre Gesichter, während sie sangen, und das schimmernde Licht, das die toten Eichenblätter berührte, und Straws weißes Engelsgewand und das runde Kupfertablett hinten auf dem Karren. Doch am deutlichsten ist mir haften geblieben, wie eigenartig die menschliche Natur sein kann: daß Gefährten wegen einer Meinungsverschiedenheit darüber, auf welche Weise man sich am besten eines armseligen Fleischbrockens entledigen kann, einer gewalttätigen Auseinandersetzung so nahe kommen können – in einer Zeit der Pest und des Blutes wie der unseren, wo jeder Tag ein Festtag für den Tod ist, wo wir die aufgetürmten Leichen auf den Straßen geschaut haben, Kadaver, die einer wie der andere aussahen, verwesend auf Karren, zusammengehäuft für Massengräber. Dies lag zwar schon einige Jahre zurück, doch nun gab es hier im Norden einen neuerlichen Ausbruch von noch verheerenderer Kraft, und nicht einmal der Winter konnte ihm Einhalt gebieten: Felder liegen unbestellt, und viele Menschen verhungern; sie fallen zu Boden und werden in aller Hast in irgendeinem dunklen Winkel verscharrt. Räuberbanden verheeren das Land; Bauern flüchten vor ihren Arbeitspflichten gegenüber den Adelsherren; und Soldaten kehren aus den endlosen Kriegen mit Frankreich zurück – Männer, die von Jugend auf nichts anderes gekannt haben als Mord. In manchen Kirchensprengeln lebt nicht
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