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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer
Autoren: Burkhard Driest
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Ständchen der Leibstandarte eröffnet wurde. Der Führer im Eingang der Reichskanzlei mit überkreuzten Händen, einem haarigen Oberlippenviereck und tief gezogenem Mützenschirm. Trachtengruppen warteten mit Blumen, junge und alte Menschen kletterten alle möglichen Säulen hinauf, und über allem wehte die Flagge des Reiches. Applaus, Heil, der Führer bedankte sich; kleine, weiß gekleidete Mädchen umringten ihn. Die säuberlich nach Geschlechtern getrennte Trachtenjugend mit Blumensträußen in den Händen, zog vorüber. Dann kamen aus der Reichskanzlei der slowakische Ministerpräsident Dr. Tiso, Reichsprotektor Freiherr von Neurath und ein Staatspräsident, den Tante Kläre nicht erkannte. Sie stiegen in offene Limousinen.
    Ein riesiger Chor sang ein Lied, während der Führer am Fenster den Arm streckte und den Jubel des Volkes entgegennahm. Heil! Auf dem Balkon im ersten Stock trat er an die Balustrade, lächelte, riss den Arm hoch und hielt ihn lange gestreckt. Eine Stunde später verließ die Kolonne der offenen Limousinen mit dem Führerkader den Hof der Kanzlei. Schnell wurden kleine Kinder hochgehoben, um ihr Ärmchen zu strecken. Die Fahrt ging an ihnen vorbei durch das Regierungsviertel, wo ein Teil des Volkes angetreten war – in Uniformen, in Panzern, auf Pferden, mit Armbinden, geschmückt mit den Insignien der Staatsjugend. Der Führer stand vor dem Beifahrersitz und grüßte; seine Begleitung behielt Platz, den Gipfel einer Karriere genießend, die nicht mehr zu überbieten war, den Gipfel der Geschichte. Motorisierte Einheiten standen, Flakgeschütze, Panzerspähwagen verharrten, während die Führerlimousine weiterrollte, unter dem Siegestor hindurch nach einem dramatisch verlorenen Krieg vor zwanzig Jahren. Da nahm das Rufen des Volkes zu und steigerte sich zu hysterischem Schreien, das wie eine Welle entlang der Siegesallee die Führerlimousine begleitete.
    Meine Eltern, Tante Kläre und ich hatten inzwischen den Platz gewechselt und waren in einen Wagen der SA gestiegen, unmittelbar dort, wo die Truppen sich zur Parade der größten Heerschau des Dritten Reiches formiert hatten. Vier Stunden lang zogen nun alle Waffengattungen an ihrem obersten Befehlshaber und an uns vorüber. Der Führer erhob sich, mein Vater erhob sich, wenn der Führer ihn unter den Vielen auf der anderen Fahrbahnseite auch nicht wahrnehmen konnte. Meine Mutter blieb sitzen, auf Schwangere wurde Rücksicht genommen. Der Führer und mein Vater kreuzten die Hände, wandten den Blick nach oben, wo die Formationen der Luftgeschwader vorbeidröhnten. Er und mein Vater setzten sich wieder. Ein neues Regiment trug Fahnen herbei, wieder erhoben sie sich, legten die linken Hände ans Koppel, der Führer ließ den rechten Arm zum gestreckten »Sieg Heil« schnellen, und alle – auch mein Vater – folgten der Bewegung. Die Stiefel knallten, der Marsch hämmerte, Fallschirmjäger und die Marine ließen grüßen, ein Reiterregiment auf Schimmeln trommelte und blies ins Horn. Die Musiker auf den Pferden machten eine Wende, nahmen Aufstellung gegenüber dem Führer, verdeckten meinem Vater die Sicht. Zwischen ihm und dem Führer ritt das Bataillon hindurch, gefolgt von einer motorisierten Infanteriedivision und einer Panzerabteilung. Dann war die Sicht wieder frei, abermals trat ein Bataillon vor, senkte die Fahnen, und die Nationalhymne erklang.
    Dieser 20. April war der Deutschen glücklichster Tag, denn niemals zuvor wurde ein deutscher Held und Führer so gefeiert. Nicht nur sang es laut aus allen Kehlen: »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre«, nein, die Himmel sandten, laut Tante Kläre, auch das schönste Wetter, das sich meiner Mutter warm um die Schultern legte. Beglückt summte sie zur Führerlyrik, die mein Vater ihr aus allen möglichen Zeitungen vorlas. Dann überraschte er sie mit zwei Karten für die Staatsoper, wo Herbert von Karajan Fidelio dirigierte. Das hörte ich nicht mehr, da schlief ich bereits. Das Letzte, das an meine müden Ohren drang, war der Männergesangsverein vor unserem Haus, der mit dem Lied »Brüder, weihet Herz und Hand« des deutschen Volkes unbegrenzte Liebe zu Führer und Vaterland pries.
    All dies ging mir durch den Sinn, als für einen Moment Stille in meiner Geisternacht eingetreten war. Es war eine Stille, die nicht lange währte, denn meine Mutter besaß eine Grammophonplatte mit Fidelio, von Karajan dirigiert, und legte sie nun in der Pause ihrer Liebesnacht auf. Wieder erhob sich der
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