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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer
Autoren: Burkhard Driest
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fuhr.
    Damals war diese Trance mein Schutz. Ein Schutz, den ich brauchte und zu mobilisieren suchte, wenn ich mich in den folgenden Jahren im Finstern zusammenkrümmte, eingesperrt in einem Zimmer, das für mich wie eine Totenkammer war, die sich vielleicht niemals wieder öffnen würde, erschöpft von all den Hilferufen, abgenabelt von meiner Mutter, verzweifelt. Mittels kleiner Bewegungen meines Kopfes und rhythmischer Zuckungen meines Körpers versuchte ich in solchen Situationen, den gleichmäßigen Takt der Eisenbahnräder zu imitieren, versuchte dieses Schaukeln des Zuges noch einmal zu erschaffen.
    Neun Tage vor meiner Geburt war meine Mutter verliebt, und mein Vater hatte sich einem Henker verschrieben, der sich am nächsten Tag, dem 20. April 1939, in tausendfachem Glanz und vielen Uniformen zeigen wollte.
    Dies war der Blutboden, auf dem ich das Licht der Welt erblicken würde und auf dem ich ein Jurist werden sollte, wenn es nach meinem Vater ginge. Jurist und dann Landrat. Meine Mutter hingegen wünschte sich von ihrem zukünftigen Kind, dass es Schauspieler oder Musiker oder Maler oder Literat werden würde. Sie war eine blond gelockte, junge Schöne, viel zu vital und optimistisch, um im Volk der tumben Marschierer ihren Platz zu suchen. Sie war die Tochter des Holzgroßhändlers Klöhn, der in der Stadt Gollnow das erste Auto besessen hatte. Sie war die Jüngste von drei Geschwistern, das Nesthäkchen, deren einzige Pflicht es gewesen war, strahlend glücklich zu sein und die Familie mit ihren Klavierübungen zu erfreuen. Ihr Bruder, ein Studienfreund des späteren Reichsbankpräsidenten, ging schon kurz vor der Machtergreifung nach Argentinien, verliebte sich dort, heiratete und gründete eine Bank. Ihre Schwester war mit einem Oberst der Wehrmacht verheiratet und hatte bereits zwei Kinder im Abstand von zwei Jahren. Süßchen aber, wie man sie rief, die Jüngste des Holzgroßhändlers, der die Schönheit aller Tage gehören sollte, hatte mit dem Uhrmacher-Sohn und SA-Mann Kurt die schlechteste Wahl getroffen.
     
    Auf dieser Reise nach Berlin am 19. April 1939 nahmen meine Eltern Tante Kläre mit, damit sie zur Stelle wäre, sollte mit meiner Geburt irgendetwas anders als geplant verlaufen. Meine beiden Großmütter waren zu diesem Zeitpunkt schon tot, doch es erschien mir nie als Mangel, weil ihre beiden jüngeren Schwestern, Tante Kläre und Tante Lieschen, sie vollkommen ersetzten.
    Tante Kläre hatte einen Picknickkorb mit allerlei Delikatessen gepackt, damit meine Mutter von einer sauren Gurke über Hühnerbrust, Aal in Aspik bis zu einem Becher mit extrem süßer Vanillesoße alles zum schnellen Imbiss dabei hatte. Das war neun Tage vor meiner Geburt, und wenn ich später meine unheimliche Einsamkeit betäuben wollte, sagte ich immer wieder »neun Tage vor meiner Geburt, neun Tage vor meiner Geburt, neun Tage vor meiner Geburt« – das gleichmäßige Rattern von Eisenbahnrädern, das sich mir über das Fruchtwasser mitgeteilt hatte. Diese Formulierung stammte von Tante Kläre, denn sie hat mir die Geschichte von dieser Reise oft erzählt: »Neun Tage vor deiner Geburt fuhren deine Eltern nach Berlin, um bei den Paraden zum Geburtstag des Führers dabei zu sein.«
    Des Führers 50. Geburtstag war an einem Donnerstag.
    Sie kamen bereits am Mittwochvormittag an, um auch die Vorbereitungen zu den Festlichkeiten mitzuerleben. Schon auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel war alles voller Hakenkreuzfahnen, Girlanden, mit Kränzen umwundener, großer Hitler-Fotos, in jedem Schaufenster stand ein mit Lorbeer gerahmtes Götzenbild. »Wir danken dir, unser Führer!« Aus allen Gauen des Reiches wurden unaufhörlich Geschenke in die Reichskanzlei getragen. Kisten, Truhen, riesige Pappkartons, Vogelkäfige. Aus aller Welt trafen die Gäste ein. Grüßend marschierten Uniformierte ununterbrochen in die Reichskanzlei hinein und wieder heraus. Am Vorabend des Geburtstags übergab der Reichsbauinspektor dem Führer die gerade fertig gestellte Ost-West-Achse der Hauptstadt. Vom Großen Stern grüßte die neu erstandene Siegessäule, und als das Licht des Tages schwand, wurden die Gebäude angestrahlt, überall Schalen mit Feuer entzündet, Scheinwerfer beleuchteten das Wehen der Flaggen und er riesigen Hakenkreuztücher.
    Weit vorausplanend hatte mein Vater einen Fensterplatz gemietet, sodass er, Tante Kläre und Mama (mit mir) verfolgen konnten, wie am Morgen des Geburtstags der Reigen der Gratulanten mit den
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