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Die magische Fessel

Die magische Fessel

Titel: Die magische Fessel
Autoren: Horst Hoffmann
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aus altem Segeltuch und rührte sich nicht, als sich der Hüne zornbebend vor ihm aufbaute. Koon war wie viele der Diener ein Mischwesen. Sein Oberkörper war nur leicht behaart und besaß zwei Arme. Auf den Schultern saß ein gedrungener Hals, darauf wiederum ein Kopf mit zwei Augen, einer Nase und einem Mund. Die beiden Ohren waren zur Hälfte hinter krausen, schwarzen Haaren verborgen. In einer Welt, in der Tartan entweder nie gelebt hatte oder an die er keine Erinnerung mehr besaß, hätte man diesen Oberkörper als den eines Menschen bezeichnet, den Unterkörper als den eines Tieres – gelblich behaarte, gedrungene Beine, die in Hufen endeten, und ein kräftiger Schwanz – und Koon selbst einen Sithen genannt.
    Für Tartan war Koon in diesem Augenblick die Verkörperung des Bösen, und wie das reine Böse, wie die von allen Fesseln gelöste Finsternis selbst war auch die Ausstrahlung, die Koon nun umgab.
    Tartan machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Das war nicht mehr der Koon, der sein Bruder gewesen war!
    Er sah noch so aus wie jener, doch auf andere Weise hatte er sich schrecklich verändert.
    »Du wolltest mit mir reden, Tartan?« fragte Koon.
    Tartan war sich dessen nicht mehr so sicher. Dann aber war es, als ergriffe eine fremde Macht von ihm Besitz und zwänge ihn, zu sagen:
    »Du hast sie aufgehetzt! Warum willst du, daß wir uns gegenseitig umbringen!«
    »Ich hetze niemanden auf«, antwortete Koon völlig ruhig. »Du müßtest es wissen, Tartan, denn auch du spürst die Mordgier in dir. Es ergeht uns allen so, die wir von Oomyd verlassen sind.«
    »Aber Oomyd lebt, solange wir leben!«
    »Das mag sein«, gab Koon gelassen zu. Sein Gesicht wirkte fast unschuldig, auf eine besondere Art kindlich. Doch das Dunkel, das von ihm ausströmte, war wie schwarzer Nebel, der die Hütte erfüllte. Die Kälte, die von ihm kam, legte sich wie eine Klaue aus Eis um Tartans Herz. »Doch nun schweigt Oomyd, und mit seinem Schweigen schwindet auch in uns die Kraft, die das Böse im Zaum hielt und uns zu Brüdern machte. Es wird wieder sein wie vor langer Zeit, bevor Oomyd die finstere Macht besiegte, die über das Eiland gebot. Doch es mag einen Weg geben, das Verderben von uns abzuwenden und auch Oomyd wieder zu neuem Leben zu erwecken. Oomyd kann nur dann wieder erstarken, wenn wir alle einig sind.«
    Diese Worte verwirrten den Hünen aufs neue. Tartan hatte Koon zur Rede stellen wollen, vielleicht sogar töten. Weshalb stand er jetzt vor ihm wie ein jämmerlicher Schwächling, eingeschüchtert und mit keinem größeren Wunsch, als sich einfach umzuwenden und fortzulaufen?
    Koon stand auf und machte eine Geste, die das ganze Eiland umfassen sollte.
    »Hörst du die Schreie und den Kampfeslärm, Tartan? Hundert und noch einmal hundert Diener Oomyds leben auf dem Eiland. Bevor du es von einem Ende bis zum anderen zweimal durchschritten hast, wird ihre Zahl nur noch die Hälfte betragen. Das Böse ist freigeworden in unseren Herzen, weil die Fremden Oomyd zum Schweigen brachten. Lenken wir unseren Haß gegen sie anstatt gegen uns selbst! Gehe hin zum Tempel des Ersten Lichtes und sprich durch die Hörner zu den Brüdern! Sage ihnen, daß sie den sinnlosen Kampf einstellen und ihre Kräfte für die wirklichen Feinde aufsparen sollen.«
    »Sie werden nicht auf mich hören«, erwiderte Tartan kleinlaut.
    »Sie werden es tun.«
    Und Tartan, von allen Dienern der Stärkste, gehorchte dem Sithen, als spräche Oomyd selbst zu ihm.
    Im Eingang der Hütte blieb er noch einmal stehen.
    »Wenn auch in dir diese Gier ist, Koon«, fragte er, »warum greifst du mich dann nicht an, wie Makbor es tat?«
    »Ich sagte es dir, Tartan. Weil ich auf die Fremden warte.«
    »Und wenn sie erscheinen? Wer so mächtig ist, Oomyd zu bezwingen, der sollte kaum gegen…«
    »Wir werden sie erwarten und in eine Falle locken. Sie sollen denken, nichts hätte sich verändert! Nun eile! Ich will euch gegen die Feinde führen – doch nur jene von euch, die dann noch am Leben sind.«
    Tartan machte sich auf den Weg und kämpfte die Gier nieder, sich ins Kampfgetümmel zu stürzen. Kein einziges Mal stellte er sich den Rasenden, die nun keine Spur von Scheu mehr vor den heiligen Anlagen zeigten.
    Tartan schien der einzige zu sein, der diese Ehrfurcht noch kannte. Zögernd nur drang er in den Tempel des Ersten Lichtes ein, das höchste Gebäude von allen, auf einer Anhöhe stehend und mit vier kleinen Türmen und einem hohen in der Mitte über dem
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