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Die Mädchen (German Edition)

Die Mädchen (German Edition)

Titel: Die Mädchen (German Edition)
Autoren: Oliver Döhring
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um im Knast nicht den Verstand zu verlieren. Unweigerlich
schossen ihm erneut Tränen in die Augen und er wandte den Kopf ab, dass seine
Mutter nichts bemerkte.
    „Wir sind da“, hörte er sie
schließlich sagen. Sie ließ den Gurt zurückschnallen und öffnete die Tür. Er
seufzte und tat es ihr nach. Er stieg aus und warf ein Blick auf das alte
Stadthaus, vor dem sie geparkt hatten.
    Er erinnerte sich an den Tag, an
dem seine Mutter Fotos mit ins Gefängnis gebracht hatte, aber die hatte er gar
nicht richtig angesehen. Er hatte immer vermutet, dass es ein eher kleines Haus
war, aber wie er jetzt davor stand, erschien es ganz und gar nicht so. Es hatte
einen blassblauen Anstrich und graue Balken, die zwischen den Stockwerken
verliefen. Das Obergeschoss hatte eine kleine Gaube und das Dach schien ganz
neu gedeckt zu sein. Dass das Haus
in der Kerckringstraße
am Kolberger Platz stand,
wusste er noch. Allerdings hatte ihm der Straßenname nichts gesagt und den
genaueren Erklärungen seiner Mutter hatte er nicht zugehört. Er hatte zwar
eifrig genickt, aber nur weil sie das von ihm erwartete. In Gedanken war er
dabei gewesen, den nächsten Deal für Vladimir
Fjodor
abzuwickeln. Sie war also nach St.
Lorenz Nord gezogen, nicht weit vom Lohmühlenteller entfernt. Keine schlechte
Wahl. Und vor allem am ganz anderen Ende der Stadt, als sie zuvor gewohnt
hatten.
    „Kommst du?“ fragte sie.
    Er hatte gar nicht gemerkt, dass
sie schon an ihm vorbei und den Weg zum Haus gegangen war. Jetzt stand sie auf
der Treppe und hatte den Schlüssel ins Schloss gesteckt, in der anderen Hand
seine Tasche. Mein Gott, was war er durch den Wind. Wieso ließ er sie seine
Sachen schleppen? Er war schließlich keine sechs mehr. Er beeilte sich und trat
hinter ihr ins Haus.
    Das erste, das ihm auffiel, war der
Geruch. Es roch wunderbar nach irgendwelchen Pflanzen. Oder war es ein
Reinigungsmittel? Wenn, dann war es zumindest etwas anderes als das, das im
Gefängnis
verwendet

wurde. Er hatte
vergessen, wie herrlich es in einem Raum riechen konnte, der nicht gleichzeitig
als Toilette benutzt wurde. Das war etwas anderes als der Körpergeruch der
Mitinsassen oder der Essig- und Chlorgestank in der Wäscherei.
    „Es ist ein schönes Haus“, sagte
seine Mutter. „Sicher. Es ist anders als unser altes und es gehört uns nicht.
Aber unter den Bedingungen…“
    Sie brach ab und wich seinem Blick
aus. Es schien, als hatte sie vergessen, mit wem sie sprach. Eine peinliche
Stille folgte.
    „Soll ich dir alles zeigen?“ fragte
sie schließlich.
    Er schüttelte den Kopf. Er war
einfach nur kaputt. Komisch, obwohl er außer Aufstehen gar nichts getan hatte.
Aber er fühlte sich, als ob sämtliche Energie seinem Körper entwichen war.
    „Später. Nur mein Zimmer.“
    Sie nickte und zeigte auf die
Treppe. Sie hatte diesen für diese Art Haus so typischen Stil. Dunkle
Holzstufen und ein breites Geländer, das grau gestrichen war. Er nahm seiner
Mutter die Tasche ab und ließ sie voran gehen. Es war eigenartig. Da hatten sie
sich jede Woche gesehen und doch war da plötzlich eine Spannung zwischen ihnen,
die er sich nicht erklären konnte. Wusste sie nicht so recht, was sie sagen
sollte? Wollte sie nicht noch mal ins Fettnäpfchen treten? Oder fühlte sie sich
womöglich unbehaglich? Es war natürlich etwas anderes, ihn sicher verwahrt zu
wissen, als ihn plötzlich wieder bei sich im Haus zu haben. Sollte er sie da
irgendwie beruhigen? Aber wie sollte er das anstellen? Im Moment war er dazu
sicher nicht fähig. Er wollte sich nur hinlegen, sich ein wenig ausruhen, die
Gedanken schweifen lassen.
    Der Flur war mit Raufaser tapeziert
und gelb gestrichen. Der Boden war mit hellem Laminat ausgelegt. Hatte seine
Mutter das veranlasst oder war das schon bei ihrem Einzug so gewesen? Er
vermutete letzteres, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass sie unnötig
Geld zum Fenster rausschmeißen würde. Sie öffnete die Tür auf der rechten
Seite, die wie alle Türen im Haus aus dunklem Holz war und einen messingfarbenen
Griff hatte, und ließ ihn vorbei.
    Er blieb im Türrahmen stehen und
traute seinen Augen kaum. Es war, als ob die Zeit stehen geblieben war. Er war
in einem völlig anderen Haus und es waren etliche Jahre ins Land gegangen und
doch sah das Zimmer so aus, als ob er es erst gestern verlassen hatte. Seine
Mutter hatte alles so hergerichtet, wie es früher gewesen war. Sein
Schreibtisch am Fenster, ein Regal mit seinen Büchern und ein Fernseher
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