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Die Mädchen (German Edition)

Die Mädchen (German Edition)

Titel: Die Mädchen (German Edition)
Autoren: Oliver Döhring
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gezogen, aber würde
man dort nicht wissen, wer er war? Würden sie mit dem Finger auf ihn zeigen
oder einfach nur hinter vorgehaltener Hand über ihn tuscheln? Er konnte sich
schon lebhaft vorstellen, wie beim Bäcker die Gespräche verstummten, sobald er
hereinkam, um ein Brot zu kaufen. Oder steigerte er sich da in etwas hinein?
Die Menschen vergaßen doch schnell, gerade über einen solch langen Zeitraum.
Und er hatte sich verändert. Mit dem schüchternen Jungen von damals hatte er
nichts mehr gemein. Vielleicht machte er sich umsonst Gedanken und ihn erkannte
gar niemand, wenn er ihm begegnete.
    Er war froh, dass seine Mutter ihn
am Tor erwartete. Sie schloss ihn in seine Arme und die Dämme brachen. Er ließ
seinen Tränen freien Lauf. Es war, als ob alles, was ihm durch den Kopf
gegangen war, jetzt plötzlich raus wollte.
    „Sch…“, machte seine Mutter und
strich ihm dabei sanft über den Kopf. „Ist schon gut.“ Er wunderte sich ein
wenig, wie gefasst sie war. Nach dem Kraftakt, der hinter ihr lag, hätte sie
eigentlich ebenfalls völlig fertig sein müssen. Schließlich hatte sie die
ganzen Jahre nicht aufgegeben, immer nach neuen Wegen gesucht, seine Haft zu
verkürzen. Dabei waren ihre Möglichkeiten mehr als begrenzt. Sie hatte kaum
eigenes Geld und um seine Verteidigung bezahlen zu können, hatte sie das Haus
ihrer Eltern, das sie erst kurz zuvor geerbt hatte, wieder verkaufen müssen. Es
war klar, dass sie irgendwann niemanden mehr beauftragen konnte, für seine
Freilassung zu kämpfen. Christopher hatte ihr immer wieder gesagt, sie müsse
aufhören, nach vorne blicken, auch mal an sich denken. Aber genauso gut hätte
er mit einer Wand reden können.
    Und jetzt war es endlich soweit.
Sie war am Ziel, wenn auch weit später, als sie gehofft hatte. Eigentlich hätte
sie Luftsprünge machen müssen. Doch sie wirkte ganz gelassen und empfing ihn
mehr, als ob er von einem zweiwöchigen Urlaub zurückgekehrt war. Aber vielleicht
beherrschte sie sich auch nur, damit wenigstens einer von beiden einen klaren
Kopf behielt. Oder sie spürte ein wenig Enttäuschung, weil seine Entlassung
nichts mit ihren Bemühungen zu tun hatte.
    Nach ein paar Minuten löste er sich
von ihr und wischte sich über die Augen. Erst jetzt merkte er, dass ihm kalt
war. Eine Winterjacke hatte er natürlich nicht. Seine Mutter nickte ihm aufmunternd
zu. Ohne ein Wort nahm sie ihm seine Tasche ab und zog ihn hinter sich her zu
ihrem Wagen. Er beobachtete sie. Er hatte sie ja immer wieder gesehen während
seiner Haft, aber irgendwie hatte er da die Veränderung nicht so wahrgenommen.
Vielleicht weil ihn andere Dinge beschäftigten oder weil man im Gefängnis alles
mit anderen Augen sah. Sie war noch schlanker als früher, wenn er das unter dem
mit Fell abgesetzten Mantel richtig wahrnahm, ihre kurzen Haare ein bisschen
grauer und er war sicher, dass die Jahre im Gefängnis ihr einige Falten mehr
eingebracht hatten, aber er fand sie immer noch attraktiv. Sie trug Jeans und dunkle
Halbschuhe und wie er so hinter ihr her trottete, hätte er sie nicht älter als
Mitte Zwanzig geschätzt. So konnte man sich täuschen.
    Den Audi hatte sie um die Ecke
geparkt. Sie betätigte die Zentralverriegelung, öffnete den Kofferraum und warf
seine Tasche hinein. Christopher stieg auf der Beifahrerseite ein und schnallte
sich an. Auf dem Weg zu ihnen nach Hause versuchte er, die Umgebung in sich
aufzunehmen. Am Gustav-Radbruch-Platz war eine Baustelle, aber die hatte es da
ohnehin öfter mal gegeben. Aus dem Holiday Inn war ein Scandic Hotel geworden.
Seine Mutter fuhr in den Kreisel und bog vor dem Burgtor rechts ab. Viel hatte
sich hier nicht getan. Im Gegenteil, es sah alles genauso aus wie vorher.
    „Was ist das für ein Gebäude?“
fragte er, nachdem sie die Hubbrücke passiert hatten, und zeigte auf einen Bau
auf der anderen Seite der Trave.
    „Die Media-Docks.“
    „Und was ist das?“
    „Da sind viele Büros untergebracht.
Ein Call Center, Werbefirmen und so was ähnliches.“
    Der Komplex hinterließ einen
starken Eindruck. „Die haben sicher einen tollen Blick.“
    Seine Mutter zuckte mit den
Schultern. „Aber die Miete ist auch ziemlich hoch.“
    Den Rest der Fahrt verbrachten sie
schweigend. Es war fast wie früher. Nur er und seine Mutter. Vor seinem inneren
Auge sah er sich als Achtjährigen auf dem Rücksitz, wie er mit ihr zum Einkaufen
fuhr. Andere Erlebnisse fielen ihm ein, Dinge, an die er ewig nicht gedacht
hatte, einfach,
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