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Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Die Macht der verlorenen Zeit: Roman

Titel: Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
Autoren: DeVa Gantt
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ihres Neffen noch im Ohr und rang um Pauls Anerkennung, um ihre Zukunft und ihre Bequemlichkeiten im Herrenhaus abzusichern, an die sie sich als Mrs Duvoisin inzwischen gewöhnt hatte.
    Zu Agathas großem Kummer beharrte Frederic darauf, die Einweihung des neuen Hafens auf das Frühjahr zu vertagen. Sie protestierte zwar, doch Frederic ließ sich nicht beirren. Seiner Meinung nach war ein solches Fest so kurz nach Pierres Tod nicht angebracht. Paul pflichtete seinem Vater bei, und so wurden die Feierlichkeiten auf den frühen April, noch vor der Osterwoche, festgelegt. Um diese Zeit war das Wetter wieder angenehm warm, sodass sich die Anreise der Gäste und ihre Unterbringung besser planen ließen als im Winter.
    Von John gab es bisher kein Lebenszeichen. Die Zwillinge vermissten ihren Bruder bitterlich und waren jedes Mal tief enttäuscht, wenn wieder ein Schiff ohne Briefe aus Virginia im Hafen anlegte. Doch Charmaine konnte John gut verstehen. Die Wunden waren noch längst nicht verheilt, und die Erinnerung an die glücklichen Tage war einfach zu schmerzlich. Sie dachte oft an die unbeschwerte Zeit zurück, vor allem an die beiden Wochen vor Pierres Tod. Damals waren sie eine Familie gewesen. Eine glückliche Familie. Doch an diesem schrecklichen Oktobertag hatte sie nicht nur Pierre, sondern auch John verloren. Selbst wenn er noch heute nach Charmantes zurückkäme, würden die glücklichen Tage nicht wiederkehren. Pierre war für immer von ihnen gegangen … und sie sollte sich lieber an der Erinnerung freuen, statt von Unmöglichkeiten zu träumen.
    Mitte November ließ sich ein junger Arzt auf Charmantes nieder, der auf den Abschluss an einer renommierten Universität verweisen konnte. Nur zu gern hatte er die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und seine Praxis in einer Gegend eröffnet, wo er wenig Konkurrenz befürchten musste. Als Charmaine rein zufällig Caroline Browning über den Weg lief, wollte die natürlich sofort wissen, ob John hinter der Sache steckte. Angeblich munkelte man, dass er die fachlichen Fähigkeiten seines Onkels anzweifelte und dem neuen Arzt unter die Arme griff, bis dieser einen eigenen Patientenstamm aufgebaut hatte. Wenn sie an die traumatischen Stunden vor Pierres Tod zurückdachte, sah Charmaine keinen Grund, daran zu zweifeln. Doch als Mrs Browning auf die näheren Umstände des Unglücks zu sprechen kam und wissen wollte, warum man den kleinen Pierre überhaupt der Obhut seines Bruders anvertraut habe, brach sie die Unterhaltung ab.
    Samstag, 25. November 1837
    Vom Sattel aus sah Paul zu Charmaine hinüber, ohne dass sie seinen Blick bemerkte, und bewunderte ihren sicheren Sitz und den gekonnten Umgang mit ihrer gescheckten Stute.
    Diese gemeinsamen Samstage waren der einzige Silberstreif am düsteren Himmel, der das Glück seiner Familie seit Monaten beschattete. Er sehnte sich nach dieser Frau. Im bleichen Licht der Wintertage erschien sie ihm verführerischer denn je: diese würdevolle Haltung trotz allen Kummers, die Wärme, mit der sie seine Schwestern umsorgte, und dazu ihre Duldsamkeit. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und sie endlich die wunderbare Lust gelehrt. Doch er wollte sie nicht drängen. Sie trauerte noch um Pierre, und er spürte sehr genau, dass trotz der neuen Freimütigkeit zwischen ihnen Charmaines Leidenschaft noch in tiefem Schlummer lag.
    In diesem Moment sah sie zu ihm herüber. »Wie gehen eigentlich die Arbeiten auf Espoir voran?«
    »Die sind so gut wie beendet.« Ihr Interesse freute ihn sichtlich. »In der kommenden Woche installieren wir die Lampen im Leuchtturm. Außerdem will ich in kleinerem Rahmen mit dem Schiffsverkehr beginnen. Es wäre unsinnig, das alles bis zum April aufzuschieben. So können sich die Besatzungen bereits mit der Navigation im Hafen vertraut machen.« Und dann fragte er spontan: »Möchten Sie sich Espoir einmal ansehen?«
    Charmaine wandte den Blick von der Straße ab und sah nur ein breites Lächeln und weiße Zähne inmitten eines gebräunten Gesichts. Er meinte es tatsächlich ernst! »O ja, sehr gern sogar!«, rief sie begeistert.
    »Wie wäre es mit der kommenden Woche? Wir könnten ja die Mädchen mitnehmen und ein paar Tage lang dortbleiben.«
    Ihre Begeisterung schwand zusehends. Vermutlich sorgte sie sich um eine Begleitung. »Ich werde Rose bitten, uns zu begleiten«, fügte er hinzu.
    Der Satz genügte, und schon strahlte sie. »Eine ausgezeichnete Idee!«
    Zum ersten Mal seit vielen Wochen
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