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Die Löwen

Die Löwen

Titel: Die Löwen
Autoren: Ken Follett
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beim Essen zuzusehen. Außerdem hatte er nur mal prüfen wollen, ob er noch was drauf hatte; es ging ihm in Wirklichkeit gar nicht darum, die Brünette zu verführen. Zwar war sie sehr hübsch, mit lockigem Haar und warmem, mediterranem Teint, auch hatte sie eine tolle Figur, doch seit einiger Zeit hatte Jean-Pierre das Interesse an Zufallseroberungen verloren. Das einzige Mädchen, das ihn wirklich faszinierte, war Jane Lambert - und sie würde sich nicht einmal von ihm küssen lassen.
    Er wandte seinen Blick von der Brünetten ab und ließ ihn ruhelos durch die Krankenhauskantine schweifen. Nirgends ein bekanntes Gesicht. Die Kantine war fast leer; er aß frühzeitig zu Mittag, weil er Frühschicht hatte.
    Es war jetzt ein halbes Jahr her, dass er zum ersten Mal Janes bildhübsches Gesicht gesehen hatte, und zwar bei einer Cocktailparty anlässlich der Veröffentlichung eines neuen Buches über feministische Gynäkologie. Er hatte zu ihr gesagt, dass es so etwas wie feministische Medizin nicht gebe; es gebe nur gute Medizin oder schlechte Medizin.
    Sie hatte erwidert, dass es auch so was wie eine christliche Mathematik nicht gebe, dass aber dennoch ein Ketzer wie Galilei vonnöten gewesen sei, um zu verkünden, dass die Erde sich um die Sonne bewege. »Sie haben recht!« hatte Jean-Pierre ausgerufen, mit all dem Charme, den er aufbringen konnte, und sie waren Freunde geworden.
    Doch sein Charme hatte ihm wenig genützt; sie schien dagegen immun. Sie mochte ihn, war jedoch allem Anschein nach mit dem Amerikaner liiert, obwohl dieser Ellis wesentlich älter war als sie. Irgendwie machte sie das für Jean-Pierre noch begehrenswerter. Wenn bloß dieser Ellis von der Bildfläche verschwände, auf welche Weise auch immer … In letzter Zeit schien Janes Widerstand schwächer zu werden - oder war das nur Wunschdenken?
    Die Brünette fragte: »Stimmt es, dass Sie für zwei Jahre nach Afghanistan gehen werden?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Warum?«
    »Weil ich an die Freiheit glaube, vermutlich. Und weil ich diese ganze Ausbildung nicht nur mitgemacht habe, um verfetteten Geschäftsleuten Koronar-Bypässe zu applizieren.«
    Die Lügen gingen ihm ganz automatisch über die Lippen.
    »Aber weshalb zwei Jahre? Die meisten, die das tun, verpflichten sich für drei bis sechs Monate, äußerstenfalls für ein Jahr. Zwei Jahre, das ist ja wie eine Ewigkeit.«
    »Wirklich?« Jean-Pierre lächelte gequält. »Sehen Sie, es ist schwierig, in einem kürzeren Zeitraum etwas von wirklichem Wert zu erreichen. Das Konzept, Ärzte bloß für eine Art Stippvisite dorthin zu schicken, ist äußerst ineffizient. Was die Rebellen brauchen, ist ein permanentes Versorgungszentrum, ein Krankenhaus an einem festen Ort mit einigermaßen konstantem Personal. Nach Lage der Dinge wissen die Menschen dort nicht, wohin sie ihre Kranken und Verwundeten bringen sollen, auch befolgen sie nicht die Anweisungen des Arztes, weil sie ihn nie lange genug kennen, um ihm zu vertrauen.
    Und niemand hat Zeit zur Ausbildung im Gesundheitswesen. Überdies macht der Transport der freiwilligen Mediziner nach Afghanistan und zurück ihre › freien ‹ Dienste ziemlich teuer.« Jean-Pierre sprach mit so viel Überzeugungskraft, dass er beinahe selbst glaubte, was er sagte, und er musste sich sein wahres Motiv ins Gedächtnis zurückrufen: Warum er nach Afghanistan ging, und warum er dort zwei Jahre lang bleiben musste .
    Hinter ihm sagte eine Stimme: »Wer leistet › freie ‹ Dienste?«
    Er drehte sich um und sah ein Pärchen mit Tabletts, auf denen sie ihr Mittagessen trugen: Valerie, eine Internistin (also von derselben Sparte wie er selbst), und ihr Intimfreund, ein Röntgenologe. Sie setzten sich zu Jean-Pierre und der Brünetten.
    Die Brünette beantwortete Valeries Frage: »Jean-Pierre geht nach Afghanistan, um für die Rebellen zu arbeiten.«
    »Wirklich?« Valerie zeigte sich überrascht. »Ich hatte gehört, dir sei ein toller Job in Houston angeboten worden.«
    »Ich habe abgelehnt!«
    »Aber warum denn?« fragte sie verblüfft.
    »Ich finde es wichtig, das Leben von Freiheitskämpfern zu retten, während es auf ein paar texanische Millionäre mehr oder weniger nicht so sehr ankommt.«
    Der Röntgenologe zeigte sich von Jean-Pierre weit weniger fasziniert als seine Freundin.
    Er schluckte einen Mundvoll Kartoffeln und sagte: »Was soll’s. Wenn Sie zurückkommen, wird man Ihnen denselben Job wieder anbieten - und Sie werden nicht nur ein Arzt, sondern auch ein
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