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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Englisch als Hauptfach entschieden: weil sie leidenschaftlich gerne las. Das Univerzeichnis mit den Kursangeboten zu britischer und amerikanischer Literatur war für Madeleine, was der Modekatalog von Bergdorf für ihre Mitbewohnerinnen war. Über eineAnkündigung wie «ENG 274: Lylys
Euphues
» geriet sie in dieselbe Begeisterung wie Abby über ein Paar Cowboystiefel von Fiorucci. «ENG 450A: Hawthorne und James» erfüllte Madeleine mit einer prickelnden Erwartung sündiger Stunden im Bett, nicht unähnlich dem, was Olivia sich erhoffte, wenn sie mit Lycrahemd und Lederjacke in die Disco ging. Schon als Mädchen, in ihrem Elternhaus in Prettybrook, war Madeleine in die Bibliothek mit den für ihre Arme unerreichbar hoch hinaufwachsenden Regalen gewandert – mit Neuerwerbungen wie
Love Story
oder
Myra Breckinridge
, die etwas leicht Verbotenes verströmten, aber auch ehrwürdigen, ledergebundenen Ausgaben von Fielding, Thackeray und Dickens   –, und die gebieterische Präsenz all dieser potenziell lesbaren Wörter hatte sie in ihren Bann gezogen. Eine ganze Stunde lang konnte sie ihren Blick über Buchrücken schweifen lassen. Ihre Katalogisierung der Familienbestände taugte, was die Übersicht betraf, mindestens so viel wie die Dewey-Dezimalklassifikation. Madeleine wusste auf Anhieb, wo alles war. In den Regalen am Kamin standen Altons Lieblingsbücher, Biographien amerikanischer Präsidenten und britischer Premiers, die Memoiren kriegslüsterner Außenminister, Romane übers Segeln oder Spionage von William F.   Buckley dem Jüngeren. Phyllidas Bücher füllten die linke Seite der Gestelle vor dem Eingang zum Wohnzimmer, Romane und Essaysammlungen, die in der
New York Review of Books
besprochen worden waren, genauso wie Bildbände über Englische Gärten oder Chinoiserien. Auch heute noch, bei Aufenthalten in einem Bed and Breakfast oder einer Pension am Meer, kam Madeleine nicht am Hilferuf eines Regals voller verwaister Bücher vorbei. Sie strich mit den Fingern über die salzzerfressenen Umschläge. Sie fieselte von der Meeresluft zusammenpappende Seiten auseinander.Mit Taschenbuch-Thrillern oder -Krimis hatte sie kein Mitleid. Es waren die gottverlassenen Leinenbände, die schutzlosen, mit Vielfachringen abgestellter Kaffeetassen besudelten Dial-Press-Ausgaben von 1931, die Madeleine ins Herz stachen. Mochten ihre Freundinnen sie an den Strand rufen, die Clambake-Party schon im Gange sein – Madeleine setzte sich aufs Bett und las eine Weile, damit das traurige alte Buch nicht mehr ganz so traurig war. Auf diese Weise hatte sie Longfellows
Hiawatha
gelesen. Auch James Fenimore Cooper. Und
H.   M.   Pulham, Esquire
von John P.   Marquand.
    Trotzdem beunruhigte sie manchmal, was diese muffigen alten Bücher ihr antaten. Einige auf dem College hatten Englisch als Hauptfach gewählt, um sich auf ein Jurastudium vorzubereiten. Andere strebten eine Journalistenlaufbahn an. Der Klügste in den Spezialkursen ihres Honors-Programms, Adam Vogel, ein Professorenkind, wollte promovieren und selbst Professor werden. Blieb ein großes Kontingent an Leuten, die Englisch aus Verlegenheit studierten. Weil ihre linke Gehirnhälfte nicht für Naturwissenschaften taugte, weil Geschichte zu trocken, Philosophie zu schwierig, Geologie zu erdöllastig und Mathematik zu mathematisch war – weil sie sich weder musikalisch noch künstlerisch, noch finanziell zu irgendetwas motiviert fühlten oder sie, mindestens genauso schlau, Universitätsabschlüsse ansteuerten, indem sie das Gleiche taten, was sie schon in der Grundschule getan hatten: Geschichten lesen. Englisch war das Fach, das alle studierten, die nicht wussten, was sie studieren sollten.
    Im dritten Studienjahr hatte Madeleine einen Honors-Kurs belegt, der unter dem Titel «Der
marriage plot
: Ausgewählte Romane von Austen, Eliot und James» angekündigt war. Geleitet wurde er von K.   McCall Saunders. Saunders war ein neunundsiebzigjähriger Neu-Engländer. Er hatte einlanges Pferdegesicht und ein feuchtes Lachen, das sein prächtiges saniertes Gebiss entblößte. Seine pädagogische Methode war die, laut vorzulesen, was er vor zwanzig oder dreißig Jahren an Vorlesungen verfasst hatte. Madeleine blieb in dem Seminar, weil Professor Saunders ihr leidtat und die Leseliste so gut war. Nach Saunders’ Ansicht hatte der Roman mit dem
marriage plot
seinen Höhepunkt erreicht und sich von dessen Verschwinden nie wieder erholt. In jenen Zeiten, als der Erfolg im Leben
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