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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Gehwegen, die sich wie in einem Charles-Addams-Cartoon oder einer Lovecraft-Geschichte an schwarzen Eisenzäunen entlangzogen, draußen vor den Ateliers der Rhode Island School of Design, wo ein Kunststudent nach einer im Malrausch durchwachten Nacht Patti Smith schmetterte, reflektiert von den blanken Instrumenten (Tuba und Trompete) zweier Mitglieder der Uni-Blaskapelle, die sich zu früh am Treffpunkt eingefunden hatten und schon ganz beunruhigt guckten, wo die anderen wohl alle blieben, in den kleinen Kopfsteinpflasterstraßen, die bergab zum verschmutzten Fluss führten, schien die Sonne auf jeden Messingknauf, jeden Insektenflügel, jeden Grashalm. Und zu dem plötzlich flutenden Licht begann, wie eine Startpistole für die Geschäftigkeit,in Madeleines Wohnung oben im dritten Stock die Türklingel laut und eindringlich zu schrillen.
    Der Impuls erreichte sie weniger als ein Geräusch denn als Empfindung, ein Elektroschock, der ihr das Rückgrat hinaufschoss. Mit einer einzigen Bewegung riss Madeleine sich das Kissen vom Kopf und setzte sich auf. Sie wusste, wer da klingelte. Es waren ihre Eltern. Sie hatte eingewilligt, sich um 7.30   Uhr mit Alton und Phyllida zum Frühstück zu treffen. Diesen Plan hatten sie schon zwei Monate zuvor, im April, besprochen, und jetzt waren sie da, zur verabredeten Zeit, in ihrer beflissenen und erwartungsvollen Art. Dass Alton und Phyllida aus New Jersey angereist waren, um bei Madeleines Graduierung dabei zu sein, dass es nicht nur der Erfolg ihrer Tochter war, den sie heute hier feiern wollten, sondern auch ihr eigener als Eltern, hatte nichts Schlimmes oder Unerwartetes an sich. Das Problem war, dass Madeleine zum ersten Mal in ihrem Leben nichts damit zu tun haben wollte. Sie war nicht stolz auf sich. War nicht zum Feiern aufgelegt. Sie hatte den Glauben an die Bedeutung des Tages und an alles, wofür die Graduierung stand, verloren.
    Sie erwog, nicht an die Tür zu gehen. Aber sie wusste, wenn sie es nicht tat, würde es eine ihrer Mitbewohnerinnen tun, und dann musste sie erklären, wohin und mit wem sie gestern Abend verschwunden war. Also schlüpfte Madeleine aus dem Bett und stand widerstrebend auf.
    Das schien fürs Erste zu gelingen. Ihr Kopf fühlte sich seltsam leicht an, wie ausgehöhlt. Aber in der nächsten Sekunde staute sich das Blut, das ihr wie Sand in einem Stundenglas aus dem Gehirn rann, und der hintere Teil ihres Schädels explodierte vor Schmerz.
    Mitten in diesem Feuerwerk, als wäre es dessen schrillende Ursache, klingelte es wieder.
    Sie stürzte aus ihrem Zimmer, stolperte barfuß zur Gegensprechanlage am Eingang und schlug auf die Sprechtaste, um den Lärm zu beenden.
    «Hallo?»
    «Was ist los? Hast du die Klingel nicht gehört?» Es war Altons Stimme, tief und gebieterisch wie immer, obwohl sie nur aus einem winzigen Lautsprecher kam.
    «Tut mir leid, ich war unter der Dusche.»
    «Was du nicht sagst! Lässt du uns bitte rein?»
    Das wollte Madeleine nicht. Sie musste sich erst frischmachen.
    «Ich komme runter», sagte sie.
    Diesmal ließ sie die Sprechtaste zu spät los und schnitt Altons Antwort ab. Sie drückte noch einmal und sagte: «Daddy?», aber Alton musste gleichzeitig gesprochen haben, denn als sie wieder auf Empfang drückte, hörte sie nur Rauschen.
    Madeleine nutzte die Gesprächspause, um ihre Stirn an den Türrahmen zu lehnen. Das Holz fühlte sich angenehm und kühl an. Ihr kam der Gedanke, dass sie ihre Kopfschmerzen vielleicht loswürde, wenn sie das Gesicht gegen das lindernde Holz gepresst ließe, und dass sie, wenn sie die Stirn für den Rest des Tages an den Türrahmen lehnen, die Wohnung aber trotzdem irgendwie verlassen könnte, möglicherweise sogar in der Lage wäre, das Frühstück mit ihren Eltern durchzustehen, bei der Eröffnungsprozession mitzumarschieren, ihr Zeugnis in Empfang zu nehmen und zu graduieren.
    Sie hob den Kopf und drückte wieder auf die Sprechtaste.
    «Daddy?»
    Aber es war Phyllidas Stimme, die sich meldete.
    «Maddy? Was ist los? Lass uns rein.»
    «Die anderen schlafen noch. Ich komme runter. Hört auf zu klingeln.»
    «Wir wollen doch deine Wohnung sehen!»
    «Nicht jetzt. Ich komme runter. Und nicht klingeln.»
    Sie nahm die Hand von den Tasten und wich zurück, wie gebannt auf die Sprechanlage starrend, als traute sie ihr doch noch ein Geräusch zu. Da es still blieb, ging sie den Flur entlang zum Bad. Auf halber Strecke tauchte eine ihrer Mitbewohnerinnen, Abby, aus ihrem Zimmer auf und
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